Hintergrund

Play Suisse: «Zu siebzehnt gegen Netflix»

Luca Fontana
23.11.2020

Pierre-Adrian Irlé ist Projektleiter und der Intrapreneur hinter der neuen SRG-Streaming-App «Play Suisse». Im Interview stellt er sich nicht nur meinen Fragen, sondern auch der Kommentarspalte der digitec und Galaxus Community.

Ein Review, das Wellen geschlagen hat. Genau genommen bis nach Leutschenbach und Genf. Dort, wo sich der Unternehmenssitz des Schweizer Radio und Fernsehen befindet. Dort, wo «Play Suisse», die neue SRG-Streaming-App, entwickelt worden ist.

  • Produkttest

    Play Suisse Review: Super Idee, miese Umsetzung

    von Luca Fontana

Geleitet wird das Projekt von Pierre-Adrian Irlé. Derjenige, der mich kontaktiert hat, kaum war das Play-Suisse-Review online.

Über meinen Artikel wolle er mit mir reden, so das E-Mail. Nicht, um irgendwas zu berichtigen. Im Gegenteil. Irlé ist an Feedback interessiert. Will ganz genau von mir wissen, was geklappt hat und was nicht. Ich beisse an. Unter der Bedingung, ein Interview mit ihm zu bekommen. Nicht nur ich habe Fragen. Unsere Leserinnen und Leser auch, wie zahlreiche Kommentare im Review gezeigt haben.

Pierre-Adrian Irlé willigt ein.

Pierre, du bist verantwortlich für Play Suisse. Der Projektleiter. Nutzt du überhaupt Streamingdienste?
Pierre-Adrian Irlé: Na, klar! Ich nutze unter anderem HBO Now via VPN (lacht).

Tatsächlich? Darf ich das so schreiben (lacht)?
Sicher, das macht mir nichts aus. Ich habe eben ein paar Jahre in Amerika gelebt. Jetzt, da ich in der Schweiz zurück bin, ist VPN die einzige Möglichkeit, die ich habe, diese Shows auch weiterhin zu geniessen. Ist halt so eine Sache, der Zugang zu streambaren Inhalten. Und für die Medienbranche selbst eine riesengrosse Herausforderung. Abgesehen davon schaue ich viel Netflix. Michael Jordans «The Last Dance» hat mir sehr gefallen. Und mit meiner Freundin schaue ich aktuell die vierte Staffel von «The Crown». Und dann gibt es noch Youtube. Die haben einen echt unglaublichen Vorschlag-Algorithmus. Ich muss praktisch gar nichts mehr selber suchen. Ausser «Adam Ondra», ein unfassbar guter Kletterer, der wöchentlich neue Videos macht.

Und dann kommt Play Suisse. Eine Art Hub für Schweizer Filme, Serien und Dokus. Vor allem für SRG-Eigenproduktionen. Warum fehlt dann «Der Bestatter»?
Es wird kommen, versprochen! In den nächsten Wochen. Alle sieben Staffeln. Der Grund, warum wir den Bestatter nicht gleichzeitig mit dem Launch der App ermitteln liessen, ist – nun, eigentlich sind es zwei Gründe. Einerseits sollen sämtliche Inhalte, die du auf Play Suisse anschaust, ab Start mit Untertiteln in den Landessprachen Deutsch, Französisch und Italienisch versehen sein. Das braucht unheimlich viel Zeit. Ursprünglich wollten wir die Untertitel maschinell und vollautomatisch generieren. Um Zeit zu sparen. Die Qualität war aber richtig mies. Was wir jetzt also tun, ist, die generierten Untertitel zuerst von einem Übersetzungsteam kontrollieren und anschliessend von einem Korrektorat korrigieren zu lassen.

Und andererseits?
Andererseits kommt uns ein anderes Thema in die Quere. Sponsoring. Ein Artefakt des linearen Fernsehens. Aber wir dürfen gesetzlich keine Online-Werbung schalten. Darum sind solche Sponsoringeinnahmen umso wichtiger. Vor allem bei Product Placement. Da muss bei jedem Inhalt klar signalisiert werden, wer Hauptsponsor ist. Nur: Bei Serien etwa variiert der Hauptsponsor nicht nur von Staffel zu Staffel, sondern auch von Sprachregion zu Sprachregion. Für solche Geschichten müssen wir erst ein Tool entwickeln.

«Unser Play-Suisse-Team ist organisiert wie ein kleines, autonomes Start-Up-Unternehmen innerhalb der SRG.»

Dabei produziert die SRG tatsächlich viele unglaublich gute Inhalte, die allesamt Untertitel brauchen. Ich zum Beispiel schaue mir viele eurer Dokus und Reportagen an. Ich werde selten enttäuscht.

Herzlichen Dank. Ja, wir arbeiten wirklich hart an unseren Inhalten. Ich denke, wir sitzen hier auf einer Art Goldmine an guten Inhalten. Jetzt müssen wir nur noch lernen, noch tiefer zu schürfen und die vielen, tollen Inhalte ans Tageslicht zu befördern.

Viele unserer Leser waren aber nach dem Launch der App umso enttäuschter. Der Vorwurf, den ich am meisten lese und im Test auch selber geäussert habe, ist, dass die App unfertig wirkt.
Das kann ich absolut nachvollziehen. Vor allem die Enttäuschung. Ich glaube, da gibt’s zwei Kategorien. Zum einen sind die Leute über das enttäuscht, was fehlt, zum anderen aber über die Dinge, die da sind, aber die noch nicht richtig funktionieren.

Könnte man so ausdrücken, ja.
Unser Play-Suisse-Team ist organisiert wie ein kleines, autonomes Start-Up-Unternehmen innerhalb der SRG. Wir sind nicht viele und haben ein verhältnismässig kleines Budget. Zusammen haben wir bei Null angefangen, etwa im September 2019, und innerhalb von Monaten haben wir aus dem Nichts die Play Suisse Website und App gestampft.

Aus dem Nichts? Wie seid ihr da vorgegangen?
Einfach ausgedrückt haben wir mit technologischen «Bausteinen» gearbeitet, die die verschiedenen Ebenen unserer App ausmachen. Cloud Services, Backend- und Datenplattformen, Entwickler-Engines. Solche Sachen. Dafür haben wir mit externen Partnern zusammengearbeitet. Das Frontend hingegen haben wir komplett im eigenen Haus entwickelt. Der Code gehört da also uns, bleibt intern und wird nicht mit externen Partnern ausgetauscht. Genauso wie die Nutzerdaten, die wir für den Suchalgorithmus benötigen, der wiederum passende Empfehlungen an unsere Nutzer schickt.

Ihr habt also nicht einfach eine «Lösung von der Stange» gekauft.
Genau. Wir wollten unsere eigene Roadmap bestimmen. Unsere Ziele und Visionen selber formulieren. Selber bestimmen, was wann bereit sein muss und in welcher Reihenfolge wir welche Herausforderungen anpacken. Die Sache mit den mehreren Profilen pro Log-In zum Beispiel, die du in deinem Review erwähnt hast. Das ist etwas, das wir unbedingt wollen und was die App sicherlich braucht. Für den Release empfanden wir das Feature aber nicht als kritisch. Mit unserem kleinen, limitierten Team mussten wir die Prioritäten anders setzen.

Zum Beispiel?
Wir wissen, dass ein Grossteil der Zuschauer die SRG-Inhalte nicht via App konsumiert (Anm.: Play SRF), sondern über den Webbrowser. Darum war es uns extrem wichtig, dass Play Suisse im Webbrowser einwandfrei funktioniert...

... und erst später am TV?
Ganz genau. Unsere Vision ist klar: Play Suisse soll auf den grossen Bildschirmen konsumiert werden. Darum haben wir viel mit Android TV und Apple TV getestet und gearbeitet. Zum Launch konnten wir sogar Swisscom TV als Partner gewinnen. Aktuell befinden wir uns in Gesprächen mit UPC, Sunrise und anderen, kleineren Kabelbetreibern. Wir reden aber auch mit TV-Herstellern, Samsung und Panasonic zum Beispiel. Wir wollen, dass unsere App auch in ihren Stores erscheint. Das wird aber noch etwas Zeit brauchen. Wie gesagt: Prioritäten.

Du redest von zahlreichen Tests mit Android TV.
Genau. Die Schwierigkeit von Android ist, dass ihr Markt extrem fragmentiert ist. Sprich: Android verhaltet sich nicht überall gleich. Android TV auf einem Panasonic-Fernseher ist anders als Android TV auf einem Sony-Fernseher oder Set-Top-Box à la Nvidia Shield. Das alles muss man bei den Tests berücksichtigen. Übrigens ist das der Grund, warum Play Suisse auf Apple TV deutlich stabiler läuft. Das haben deine Leser in deinem Test auch geschrieben. Tatsächlich ist das Apple-Betriebssystem deutlich weniger fragmentiert und verhält sich darum viel berechenbarer auf seinen Apple-Geräten.

... aber die ganzen Probleme mit Android TV waren ja offensichtlich. Trotz euren Tests. Warum nicht einfach noch ein bisschen warten und Play Suisse dann launchen, wenn’s fertig entwickelt ist?
Ich will ganz offen sein. Wir waren selber überrascht, wie viele Probleme und Bugs es da noch gab, als wir die App gelauncht haben. Vor dem Launch hast du deine App, die du auf Herz und Nieren innerhalb deiner Testumgebung prüfst. Da schien Play Suisse deutlich fertiger. Dann kam der Launch. Und dann all die Probleme, von denen wir vorher noch gar nichts gewusst haben. Erst dann realisierten wir, wie viele Bugs tatsächlich noch auf uns gewartet haben.

Ich schätze deine Ehrlichkeit, Pierre.
Danke. Das Problem ist, dass die Leute nicht unterscheiden, ob ein Problem nur auf Android für Panasonic oder auf allen Android-Versionen existiert. Warum sollten sie auch? Es ist nicht ihre Schuld. Sie können es ja auch gar nicht wissen. Wir haben da einfach unterschätzt, wie unterschiedlich die Erfahrungen ausfallen würden und wie sehr diese Erfahrungen trotzdem pauschal der App als Ganzes zugeschrieben würden.

Anders als bei uns beiden ist es ja auch nicht ihr Job.
Richtig. Für uns von Play Suisse ist das aber eine Chance. In deinem Artikel schreibst du, es könnte noch Monate dauern, bis die App in einem akzeptablen Zustand ist. Sowas wäre normal. Wir aber wollen zeigen, dass wir deutlich schneller sind. Das ist ein ganz wichtiger Punkt in unserer Strategie. Wir wollen, dass ein Umdenken stattfindet.

Ein Umdenken?
Als wir Play Suisse lanciert haben, wussten wir, dass die App noch nicht fertig ist. Klar, wie gesagt, wir hatten uns zum Start einen «fertigeren» Zustand vorgestellt. Aber der Punkt ist, dass wir die Philosophie vertreten, dass Play Suisse nie fertig entwickelt sein wird, solange es Play Suisse gibt und genutzt wird.

Das kommt mir bekannt vor. Walt Disney hat das 1955 auch gesagt, als er sein erstes Disneyland eröffnet hat. Am Eröffnungstag gab’s kaum was, das funktioniert hat. Die Presse hat den Park gehasst. Walt Disney aber beharrte darauf, dass der Park niemals fertig sein und solange ausgebaut würde, wie er genutzt wird. Das war sein Erfolgsrezept. Damals total revolutionär.
Genau das ist unser Spirit. Wir wollen agil sein. Schnell. Weniger bürokratisch und dafür pragmatisch. Mit dem Feedback unserer Nutzer arbeiten, spüren, wo der Schuh drückt, was die dringendsten Anliegen sind und diese in einer deutlich schnelleren Geschwindigkeit umsetzen, als sich die Leute es gewohnt sind. Oder anders gesagt: Wir wollen die App mit unseren Nutzern zusammen dahin entwickeln, wo die Leute sie sich auch wünschen. Schliesslich entwickeln wir Play Suisse ja nicht für uns selber (lacht).

So, wie du das sagst, klingt das fantastisch.
Das ist auch der Grund, warum ich nach deinem Artikel gleich mit dir reden wollte, Luca. Das Feedback feuert uns an. Kritik nehmen wir entgegen. Und dann überraschen wir die Leute mit schnellen, wirksamen Updates. Apropos. Hast du das neueste Update schon gemacht?

Ja, habe ich. Lass mich die App schnell ausprobieren. Jep, startet tatsächlich deutlich schneller. Könnte aber immer noch etwas schneller sein (lacht). Hm. Vor einer Woche konnte ich noch keine Titel auf «Meine Liste» setzen. Mal sehen. Okay, funktioniert jetzt. Ich bin beeindruckt.
Das ist es, was wir erreichen wollen. Unsere Nutzer sollen merken, dass es keine Monate dauern wird, bis die App einwandfrei funktioniert. Wir wollen Transparenz zeigen. Fehler zugeben. Und sie deutlich schneller beheben, als die meisten von einem Koloss wie der SRG erwarten.

Das besagte Umdenken…
Ja, ich glaube, dieser Spirit ist was Neues. Die Leute erwarten normalerweise ein einwandfrei funktionierendes, dafür fertiges Produkt. Das wird mit Play Suisse anders laufen. Und es erfordert ein Umdenken. Nicht nur bei den Zuschauern. Auch bei uns, innerhalb der SRG.

«Play Suisse nie fertig entwickelt sein wird, solange es Play Suisse gibt und genutzt wird.»

Hat man dich deshalb von ausserhalb zur SRG geholt? Laut deinem Linkedin-Profil bist du erst seit Mai 2019 dabei.
Gut möglich. Ich habe viele Jahre in der Medienbranche gearbeitet. Als Strategieberater zum Beispiel, in Europa und in den USA, aber auch als Produzent und Regisseur bei meiner eigenen Firma in der Schweiz. Ich mag es, wenn meine Arbeit Kreativität, Unternehmertum und Strategie auf viele unerwartete Arten miteinander vereint. Jetzt bin ich da, um diese neue Philosophie zur SRG zu bringen, die viel näher am Zuschauer und seinem unmittelbaren Feedback ist.

Und Feedback gibt’s ja mehr als genug. Auch im Play und App Store. Was ist das Feedback, das du persönlich am häufigsten zur App bekommen hast?
Warum gibt es keine Tablet-App? Die Antwort: Priorisierung. Eben, die Web Version von Play Suisse war uns zum Start wichtiger. Tablet-Nutzer können so Play Suisse via Webbrowser nutzen. Was ich nicht gewusst habe, ist, dass alle Smartphone-Apps im App Store auch für Tablets zugänglich sind. Auf Tablets sieht das fürchterlich aus. Für uns heisst das, dass wir die Tablet-Version von Play Suisse deutlich schneller fertig machen müssen als ursprünglich geplant. Darum wird sie in ein paar Wochen fertig sein. Vielleicht früher.

Das ist alles?
Die Leute vermissen noch Chromecast- und AirPlay-Unterstützung. Auch das wird in den nächsten zwei, drei Wochen nachgeliefert. Dann schauen wir das Feedback der Nutzer an und reagieren entsprechend. Ein bisschen Try-and-Error-mässig. Schritt für Schritt. Auch das gehört zum Umdenken.

Du klingst mega motiviert. Hat dir das ganze negative Feedback denn gar nichts ausgemacht?
Ja und nein. Wir haben ja nicht nur schlechte Reviews bekommen. Da war durchaus auch Lob. Weisst du, unser Team besteht aus drei Frontend Developern, einem Backend Developer und zwei Data Scientists. Dazu kommt noch Marketing, Content und Übersetzung. Macht insgesamt 17 Leute. So klein ist unser Team. Zusammen haben wir in den letzten vierzehn Monaten die ganze App samt Katalog aus dem Nichts gestampft. Dafür haben wir alle monatelang hart gearbeitet und nächtelang gekrampft. Darauf bin ich extrem stolz. Wir sind uns bewusst, dass wir nicht Netflix sind. Trotzdem erwarten die Leute von uns Netflix-Qualität. Netflix hat aber ein paar Mitarbeiter mehr als wir.

Lass mich schnell googeln. Also laut Statistik waren da 2019 insgesamt 8600 Netflix-Mitarbeiter.
Genau (lacht). Es ist hart, diesen Ansprüchen jeden Tag aufs Neue gerecht zu werden. Und nach all dieser Arbeit lässt uns das viele Feedback nicht völlig kalt. Ist ja normal. Wir sind auch nur Menschen. Wir sind aber hochmotiviert, die hohen Erwartungen nicht nur zu erfüllen, sondern auch zu übertreffen.

Was waren anfangs denn die grössten Hürden?
Als ich vor etwas mehr als einem Jahr zur SRG kam, musste ich zuerst lernen, wie die Firma funktioniert. Wir reden immerhin vom grössten Medienhaus der Schweiz, das vor fast 100 Jahren gegründet worden ist. Da gibt es viele langsam walzende Mühlen, die seit eh und jeh vor sich hin walzen und genau wissen, wie und wann sie zu mahlen haben. Verstehst du, was ich meine?

Absolut. Ich habe früher mal bei Kuoni gearbeitet.
Und dann komme ich, der Neue, Frische von aussen, der da mit seinem Start-Up-Feeling die Leute animieren und mitreissen will. Bevor ich das tun konnte, musste ich alles über die Firma lernen, was es zu lernen gab. Dann habe ich mit Benchmarks begonnen, um herauszufinden, was andere Streamingdienste gut machen, was weniger gut und was wir für die Schweiz adaptieren können, einem kleinen Land mit vier Landessprachen und noch viel mehr kleinen Subkulturen.

Klingt anspruchsvoll. Hast du ein konkretes Beispiel?
Ja, die Key Visuals. Also die kleinen Vorschaubilder, die du bei jedem vorgeschlagenen Inhalt siehst. Die sind unheimlich wichtig. Die meisten Leute entscheiden eher nach dem Bild als nach dem Beschrieb, ob sie an einem Inhalt interessiert sind oder nicht. Also haben wir ein Tool entwickelt, das alle Inhalte nach guten Screenshots durchsucht, die nicht zu dunkel oder zu hell sind und die interessante Objekte, Orte oder Personen zeigen. Für jeden Inhalt spuckt das Tool zwanzig Vorschläge aus. Dann haben wir sie mit Titeln ergänzt. Anders als viele Streamingdienste wollten wir aber nicht überall einfach dieselbe Schrift und Schriftgrösse nutzen. Wir wollten Abwechslung.

Pierre-Adrian Irlés persönliche «My List»
Pierre-Adrian Irlés persönliche «My List»

Uff. All diese Mühen mit eurem kleinen Team...
Richtig. Du siehst, was ich mit monatelanger Krampferei meine. Und bei all dem war es trotzdem wichtig, nicht zu sehr vom visuellen Stil von etwas wie Netflix abzuweichen. Die Leute haben sich daran gewöhnt. Sie wollen nicht, dass wir alles radikal anders machen, einfach damit’s anders aussieht.

Und was sind jetzt die grossen, kommenden Hürden?
Das ganze Feedback zu verwerten und zu verarbeiten. Sachen wie die von dir erwähnten Performance-Probleme oder falsch gesetzten Untertitel. Bugs eben. Das Gute: Bugs sind Dinge, die wir fixen können. Wäre das grundlegende App-Design nicht gut, hätten wir ein Problem. Mit unserem kleinen Team wäre das kaum in kurzer Zeit zu fixen. Aber mit dem Design scheinen die meisten Nutzer ja sehr zufrieden zu sein.

Apropos Zufriedenheit. Wo soll Play Suisse in zwei Jahren sein, damit du zufrieden bist?
Langfristig wollen wir dort sein, wo auch unsere Zuschauer sind. Wir wollen nicht, dass sie uns suchen müssen. Das ist nicht ihr Job. Aber eben, wir sind bereits jetzt in Kontakt mit wichtigen Playern wie UPC, Sunrise, Samsung, Panasonic und anderen. Von den Prozessen her wollen wir wesentlich schneller werden im Aufbereiten. Wenn wir etwa die Rechte an «Der Bestatter» heute bekommen, soll es möglichst morgen schon auf Play Suisse sein. Aktuell brauchen wir viel zu viel Zeit fürs Erstellen der Untertitel, der Key Visuals und der Titel-Beschreibungen. Und das immer in drei Sprachen. Wir werden in zukunft vermehrt auf neue, AI-gestützte Technologien setzen, um diese Zeiten zu verkürzen.

«Das Gute: Bugs sind Dinge, die wir fixen können. Wäre das grundlegende App-Design nicht gut, hätten wir ein Problem.»

Und inhaltlich?
Inhaltlich überlegen wir uns, wie und mit wem wir neue Partnerschaften eingehen können. Aktuell priorisieren wir ja vor allem die Inhalte der SRG und arbeiten gleichzeitig eng mit Schweizer Filmemachern zusammen. Wir wollen aber schauen, ob wir auch mit anderen Broadcastern was machen könnten. Zum Beispiel mit dem deutschen Sender Arte. Oder mit internationalen Film Festivals. Gerade jetzt, da viele Festivals wegen der Pandemie abgesagt werden mussten. Mein Traum etwa wäre es, das Montreux-Jazz-Festival ins Wohnzimmer der Schweizer zu streamen.

Dabei hätte die SRG ja schon eine Streaming-App. Play SRF. Warum all die Kosten und Mühen für eine komplett neue App?
Das hat zwei Gründe. Play SRF ist ein etwa acht Jahre altes Produkt. Die Technologie dahinter entsprechend alt und sowieso viel zu eng mit dem linearen Fernsehen verknüpft. Eine Tagesschau-Sendung landet gleich nach ihrer Ausstrahlung direkt auf Play SRF. Genutzt wird Play SRF vor allem als Aufhol-Tool, falls du mal eine Sendung verpasst hast. Deshalb wollten wir was Neues entwickeln, mit neuen Technologien, die nicht so eng mit dem linearen Fernsehen verknüpft sind.

Und der zweite Grund?
Wenn wir eine bereits existierende App als Basis genommen hätten, hätten wir nicht zu viel daran verändern dürfen. Keine Risiken eingehen dürfen. Die Leute nutzen die App ja schon. Ausprobieren und Experimentieren geht da nicht. Das Risiko, das wir etwas hätten kaputt machen können, war zu gross.

Was kostet überhaupt die Entwicklung einer solchen App?
Unser Budget beträgt 5 Millionen Franken pro Jahr. Die fliessen nicht nur in die Forschung und Entwicklung, sondern auch in den Unterhalt der Infrastruktur, das Erstellen der Untertitel und die Lizenzgebühren, die wir für unsere Inhalte zahlen. Die verschlingen fast am meisten Gelder.

Wie lange bleibt denn so ein Inhalt auf Play Suisse verfügbar?
Etwa zwischen sechs Monate und drei Jahre. Dann verschwinden die Inhalte wieder oder wir verlängern die Lizenzen. Ich meine, das ist eine gute Länge. Wenn sich jemand etwas auf seine Liste tut, dann, um den Inhalt innerhalb der nächsten drei, vier Monate anzuschauen.

Okay. Lass mich das einordnen. Die SRG hat Ende September ein 50-Millionen-Sparprogramm angekündigt. Bis 2024 verlieren 250 Menschen ihren Job. Gleichzeitig lanciert die SRG dieses neue Riesenprojekt.
Ich weiss, worauf du hinaus willst. Und dein Einwand ist absolut legitim. Ich erkläre mir das Sparprogramm wie folgt: Einerseits nimmt die SRG wegen der No-Billag-Initiative weniger Geld ein wie früher. Andererseits muss der Sender aufgrund der aktuellen Pandemie auf zahlreiche Werbe- und Sponsoringgelder verzichten. Gerade wegen der Absage von Grossveranstaltungen wie die Olympischen Spiele oder die Fussball Europameisterschaft. Das hat wohl zum Sparprogramm geführt.

«Mein Traum wäre es, das Montreux-Jazz-Festival ins Wohnzimmer der Schweizer zu streamen.»

Ihr aber dürft weiter rumexperimentieren?
Korrekt. Unser 5-Millionen-Budget muss aber ins richtige Verhältnis gesetzt werden. Bei der SRG reden wir insgesamt von einem Budget von 1,6 Milliarden Franken jährlich. Davon zwacken wir 5 Millionen jährlich ab und machen mit 17 Leuten Play Suisse daraus.

Verstehe. Meine letzten zwei Fragen waren auch bewusst etwas provokativ gestellt.
Genau so soll es auch sein. Ein weichgespülter Austausch nutzt ja niemandem was. Lass mich noch etwas zu unserem Budget sagen. Die SRG befindet sich in einer Transformationsphase. Weg vom reinen Broadcaster und hin zum Onlinedienst. Aber so eine Transformation benötigt Geld. Wir können die SRG nicht verändern, ohne zu investieren. Das muss trotz Sparprogramm noch möglich sein. Wenn wir einfach weitermachen wie bisher, stehen wir in ein paar Jahren noch schlechter da als jetzt im internationalen Vergleich. Dann nutzt es uns nichts mehr, festzustellen, dass wir die Zeichen der Zeit verpasst und nicht darauf reagiert haben.

Auf die Veränderungen bin ich gespannt. Viele unserer Leser und Leserinnen meinen ja, die Inhalte der SRG seien eher etwas fürs ältere Publikum. Nicht für die Jungen, die Streamingdienste nutzen.
Auch das ist eine legitime Kritik. Stand heute haben wir kein Budget für Eigenproduktionen, die wir direkt beeinflussen können. Das muss der Sender entscheiden, dem aktuell etwa 32,5 Millionen Franken jährlich für die Entwicklung und Produktion von verschiedensten Projekten mit unabhängigen Produzenten zur Verfügung stehen. Aber es ist definitiv eine Frage für die Zukunft. Wir fänden es nicht schlecht, wenn wir eines Tages auch ein eigenes Budget für Play-Suisse-Produktionen bekommen würden.

Und bis dahin seid ihr dem ausgeliefert, was das Mutterhaus euch bietet.
Nicht ganz. Was wir machen können, ist, analysieren, wer genau unser Publikum ist. Wir haben festgestellt, dass etwa die Hälfte des potenziellen Play-Suisse-Publikums das bereits existierende Publikum vom linearen SRG-Programm ist. Die andere Hälfte besteht aus Leuten, die ihre Verknüpfung zur SRG verloren haben. Meistens jüngere, die mittlerweile auf Netflix, Sky und Co. umgestiegen sind. Oder einfach jene, die noch nie in ihrem Leben SRG-Inhalte geschaut haben. Unser Wunsch ist es, dass Play Suisse im Laufe der Zeit zum Referenz-Streaming für Schweizer Produktionen und qualitativ hochwertige kulturelle Inhalte wird. So, dass wir uns einen Platz neben, nicht an Stelle von, Netflix verdienen können.

Indem ihr auf Play Suisse auch Platz für junge, mutige und unbekannte Filmemacher macht?
Absolut! Ich meine: Wenn es einen Platz gibt, wo sowas möglich ist, dann auf Play Suisse. Disney+, Apple TV und Co. würden solche Arthouse-Sachen oder Inhalte jenseits des Mainstreams kaum kaufen. Oder wenn, dann sicher nicht auf die Front der App kleben. Abgesehen davon sehe ich auch sonst keine internationalen Player, die in der Schweiz in Arthouse-Projekte investieren würden.

«Wenn es einen Platz gibt, wo sowas möglich ist, dann auf Play Suisse.»

Klingt super, aber auch etwas heuchlerisch. Bei der SRG laufen solche Sachen ja jetzt schon meistens eher um Mitternacht. Sicher nicht zur Primetime.
Genau deshalb ist das Fenster, das Play Suisse bietet, ja auch so wichtig. Wir können da einspringen, wo der Sender oder andere Player wie Netflix fehlen und die ungesehenen Schweizer Arthouse-Produktionen aus der Versenkung holen.

Selbst, wenn das nicht gerade Traffic-Treiber sind? Lässt die SRG sowas überhaupt zu?
Who cares! Wir sind Service Public. Und weil wir kein lineares Fernsehen sind, sind wir auch nicht von Quoten und Werbegeldern abhängig. Das ist ja genau das Tolle an Play Suisse. Wir können, dürfen und sollen Risiken eingehen. Das wollen wir voll auskosten.

Könnte Play Suisse sogar zum Förderer des Schweizer Films werden? Gerade international gesehen wird der Schweizer Film sehr stiefmütterlich behandelt. Da hört man deutlich mehr von isländischen, dänischen oder schwedischen Produktionen.
Das ist eine gute Frage. Damit wir wirklich etwas bewirken könnten, müsste Play Suisse und ihr Angebot auch im Ausland zu sehen sein. Mit unserem aktuellen Budget können wir uns sowas aber unmöglich leisten. All die Rechte und Lizenzen müssten auch für ausländische Märkte und Territorien gekauft werden. Was wir aber tun können, ist, dem Schweizer Film und seinen kleinen, unbekannten Produktionen wenigstens hierzulande eine angemessene Bühne geben.

«Who cares! Wir sind kein lineares Fernsehen, Wir sind auch nicht von Quoten und Werbegeldern abhängig.»

Pierre, was denkst du, was fehlt dem Schweizer Film, um international mehr Aufsehen zu erregen?
Hätte ich das Rezept dafür, wäre ich wohl nicht hier (lacht). Generell glaube ich aber, dass es der Schweiz an «big country problems» mangelt, um glaubwürdige Geschichten zu erzählen, die auch im Ausland Beachtung finden. Vergleichen wir unsere Filme mit amerikanischen oder französischen Filmen. Dort siehst du Charaktere mit Problemen, die dort plausibel sind, hier aber nicht.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir folgen kann...
Ich nenn dir ein paar Beispiele. Grosse, mehrere Polizeibehörden umfassende Ermittlungen, die sich bis ins Ausland erstrecken. Explosionen. Drohende Terroranschläge. Politverschwörungen, die das Weltgefüge bedrohen. Big country problems halt. Sowas wirkt in der Schweiz nicht glaubwürdig, selbst wenn sie tatsächlich existierten. Aber es sind eben die Themen, die im Ausland Beachtung finden.

Was können wir also tun?
Uns auf sehr lokale, dafür glaubwürdige Geschichten konzentrieren. Die besten Geschichten sind dann diejenigen, die Sachen thematisieren, die uns selber nicht gefallen. Sprich: Dort, wo’s weh tut, hinzuschauen. Dort sind die guten Storys.

«Platzspitzbaby» zum Beispiel.
Ganz genau. Oder «Frieden», aktuell auf Play Suisse. Eine Geschichte, die auch ein historisches Thema beleuchtet, auf das die Schweiz nicht stolz ist. Andere Themen könnte die Waffenproduktion sein. Oder Verdingbuben. Filme über solche Sachen sind oft erfolgreich. Aber genau weil wir nicht gerne hinschauen, tun sich viele Filmemacher schwer damit.

Szene aus «Platzspitzbaby»
Szene aus «Platzspitzbaby»
Quelle: C-Films

Was denkst du von den Vorwürfen, dass die Schweizer Kulturförderung mehr Beiträge für die Herstellung von Filmen als für die Herstellung von Drehbüchern zur Verfügung stellt ?
Noch ein Grund, warum der Schweizer Film Mühe hat, sich zu etablieren. Ohne gute Geschichten kann es auch keine guten Filme geben. In der Schweiz fehlt es an Institutionen, die jungen Menschen beibringen, Drehbücher zu schreiben. Geschichten zu erzählen. Sich weiterzuentwickeln. Vielleicht fehlt auch einfach der Beruf an sich. In der Schweiz kann niemand vom Drehbuchschreiben alleine leben.

Ich hätte eine Drehbuchidee. Was haltest du davon: Eine gescheiterte Schlagersängerin und ein gutherziger Behinderter helfen der Grossmutter beim Coming-Out. Die rebellische Tochter hilft. Titel: NEBEN­WIRKUNGEN.
Oh Gott.

Okay, die Idee stammt nicht wirklich von mir. Ich habe sie mit dem Schweizer Film Generator generiert. Übrigens ein Tool aus der SRG-Late-Night-Show «Deville». Da könnten doch so manch mutige Ideen hergeholt werden.
Viel Glück mit dem Cocktail (lacht).

Gibt es noch etwas, dass ich dich nicht gefragt habe, das du aber mir und unseren Leserinnen und Leser unbedingt mitgeben willst?
Ja, gerne. Ich glaube, es ist ein bisschen zum Nationalsport geworden, die SRG bei allem und jedem zu kritisieren. Ich glaube aber, dass wir mit Play Suisse wirklich ein Signal setzen können. Zeigen, dass wir auch anders können. Sicher, wir sind nicht perfekt. Und sicher nicht fehlerlos. Das gehört aber zu unserem Konzept. Damit es so stehen darf, haben wir viele interne Regeln brechen müssen. Ich hoffe, dass sich das langfristig gelohnt hat. Wir nehmen Kritik an. Sehr gerne sogar. Wenn wir den Leuten zeigen, wie schnell wir darauf reagieren und wie viel sie zur Entwicklung von Play Suisse beitragen können, dann gewinnen wir ihr Vertrauen zurück. Und schlussendlich tun wir das alles ja für unsere Nutzer.

Ich danke dir fürs Interview, Pierre.
Ich danke dir.


Pierre-Adrian Irlé leitet Play Suisse, die neue nationale Streaming-Plattform der SRG SSR. Zuvor arbeitete Pierre-Adrian als Film- und Fernsehproduzent, Autor und Regisseur.

Zu seinen Arbeiten gehören die Fernsehserien Station Horizon und der Spielfilm All that Remains. Darüber hinaus arbeitete er bei der globalen Unternehmensberatung Arthur D. Little, wo er seine Karriere als Berater, dann als Senior Advisor und Medienleiter begann.

Er hat einen Bachelor-Abschluss in Management von der Bocconi-Universität in Mailand und einen MSc in internationalem Business von der HEC Paris. Heute baut Pierre-Adrian nicht nur Play Suisse auf, sondern klettert auch gerne auf Berge.

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Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.» 


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