
Huawei P20 Pro: Da ist er, der neue Standard

Mit Hardware vom vergangenen Jahr versucht Huawei mit dem P20 Pro den Markt zu erobern. Das Phone ist nicht nur gut, es ist sogar sehr gut. Es ist sicher eines der besten Phones des noch jungen Jahres. Damit wirft Huawei aber Fragen auf, die sich die Industrie stellen muss.
Wenn du die Werbebotschaften so ziemlich aller Hersteller liest, dann gibt es laut deren Marketingabteilungen alle zwei Wochen neue Standards auf dem Markt. Samsung setzt neue Standards mit der Kamera. Apple hat das «best ever» von so ziemlich allem jedes Jahr und Leagoo setzt den Standard in Punkto Akku mit 7000 mAh. Bisher hat das noch nie wirklich hingehauen, das mit den Standards. Denn oft haben sich Phones zu sehr geähnelt, oder die Updates waren nur inkrementell. Paradebeispiel hierfür ist dieses Jahr das Samsung Galaxy S9. Solides Upgrade gegenüber dem Vorgänger, aber neue Standards setzt es nicht.
Und jetzt: Huawei P20 Pro. Das Phone, das wahrscheinlich das Phone des Jahres wird.
Standards. Überall. Das Huawei P20 Pro ist eines der besten Phones, die ich je in meinen Händen gehalten habe. Das Huawei P20 Pro kommt dem Standardsetzungsversprechen näher als irgendein anderes Phone der vergangenen fünf Jahre.
High Speed mit der Hardware vom vergangenen Jahr
Das Huawei P20 Pro kommt eigentlich recht bescheiden daher. Es hat keinen eingängigen Marketingslogan. Am nächsten kommt das Sätzli «Renaissance der Fotografie», das stilistisch von keinem Medium übernommen werden kann. Denn die Buchstaben A und I in «Renaissance» sind rot eingefärbt, da die künstliche Intelligenz des Phones tiefer denn je in der Kamera verankert ist und aktiv auf dem Bild mitarbeitet. Die Artificial Intelligence (AI) ist die selbe Neural Processing Unit (NPU), die in den Vorgängerphones zu finden war. Denn die Plattform des P20 Pro ist dieselbe, wie die der Phones aus dem vergangenen Jahr: das Kirin 970 System-on-a-Chip (SoC).

Quelle: Thomas Kunz
Die Industrie will dir glauben machen, dass nur das neueste SoC wirklich gute Leistung bringen kann. Huawei ist mutig, mit dem 970er in diesem Jahr antreten zu wollen. Denn die Konkurrenz schläft nicht. Exynos und Qualcomm bringen beide neue SoCs auf den Markt. Ist Huawei müde geworden? Oder arrogant?
Weder noch. Der Test zeigt, dass die 970er-Plattform Leistung bringt. Massiv viel Leistung. Kaum ein Phone ist schneller in der Reaktion. Vor allem beim Entsperren wird das bemerkbar. Sowohl Fingerprint Scanner als auch Face Recognition brauchen weit unter einer halben Sekunde von «Bildschirm an» bis zum entsperrten Home Screen. Apps starten in einer Geschwindigkeit auf, die ich so auch noch nicht gesehen habe. Datenverarbeitung und Animation: flüssig.
Kurz: In der Benutzung kann ich dem Huawei P20 Pro nur Lob ausstellen.
Was das für den Markt bedeutet
Vor allem der Halbsatz «Hardware vom vergangenen Jahr» dürfte Szenekenner aufhorchen lassen. Dass ein Unternehmen auf im jährlichen Innovationszyklus veraltete Technologie setzt und das ganze dann auch noch Flaggschiff nennt, ist in der aktuellen Generation neu. Der Kirin 970 ist im Herbst 2017 an der IFA in Berlin vorgestellt worden, hat also etwa sieben Monate auf dem Buckel. Ein kritisches Alter.
Es sei denn, da kommt noch was an der IFA 2018 im September.
Gut, die Hardware ist gesetzt. Wo also findet Huawei die Mehrleistung? Unter anderem in der Software. Es wird in der Handhabung offensichtlich, dass Huawei die Software noch mal tüchtig überarbeitet hat. Damit übt der chinesische Konzern Druck auf jene Hersteller aus, die mit ihren Updates gerne auf sich warten lassen. Huawei zeigt mit aller Deutlichkeit, dass da noch viel rausgeholt werden kann. Ein erster neuer Standard, an dem sich alle Hersteller künftig messen müssen.

Quelle: Thomas Kunz
Denn wenn eine Software so viel ausmacht, dass die Hardware vom vergangenen Jahr die ganze Konkurrenz versenken kann, dann stellen sich die Fragen:
- Was kann anständig optimierte Software mit aktueller Hardware leisten?
- Warum muss der Innovationszyklus ein Jahr sein?
Vor allem aber auch: Wenn ein Phone dank dem jährlichen Innovationszyklus gefährlich nahe an der 1000-Franken-Grenze oder sogar drüber ist, warum dann 1000 Stutz ausgeben, wenn die alte Hardware mit neuer Software so viel leistet? Denn wenn du ein SoC herstellst und die Produktion auf zwei Jahre auslegst, dann kannst du Preise drücken. Denn das P20 Pro leistet weit mehr als manch ein 1000-Franken-Phone.
Das P20 Pro ist eine klare Kampfansage.
Denn nur mit dem Hardware/Software-Konstrukt ist es für Huawei nicht getan. Denn dann ist da noch die Sache mit dem Akku und der Kamera.
Samsung, zieh dich warm an
Das Huawei P20 Pro fühlt sich wie eine Kampfansage an den Markt an, insbesondere an Samsung. Vor wenigen Wochen hat Samsung mit dem Galaxy S9 die Revolution in der Kamera versprochen. Vor allem bei schlechtem Licht soll die Kamera besser performen, sagt Samsung.
Dem hält Huawei entgegen, indem das Unternehmen drei Kameras verbaut und statt dediziertem DRAM die Infrastruktur des Kirin an die Kamera ranschmeisst. Dazu beeindruckende Specs wie fünffacher optischer Zoom und eine Blendenöffnung von f/0.95 mit einem Bildsensor von 1/1,7 Zoll Grösse. Rein den Zahlen nach kann das Galaxy S9 als netter Versuch abgekanzelt werden.

Quelle: Thomas Kunz
In der Praxis sieht es ähnlich aus, selbst wenn ich und Videoproduzentin Stephanie Tresch in Paris den Versuch nicht wiederholen konnten, den wir mit dem S9 im Zürcher Wald gemacht haben. Denn das Konzept des Tests war so: Einfach Auto-Alles und Knips, dann sehen, was dabei rauskommt.
Das Huawei P20 Pro funktioniert leicht anders. Da die Kamera jedes Bild stets analysiert, fällt ihr schnell auf, was du genau fotografieren willst. Erkennt die Kamera ein Gesicht, wechselt sie in den Portrait-Modus mit Bokeh-Effekt, den du ein- oder ausschalten kannst. Stufenlose Einstellung könnte irgendwie möglich sein, aber ich habe das Setting nicht gefunden. Mir war aber mal, dass ich drauf gestossen bin. Wenn du eine Landschaft fotografierst, dann optimiert sich die Kamera. Tiere? Die Kamera hat es im Griff. Essen? Ebenso.
Und dann bricht die Nacht hinein. Das Phone wechselt in den Nachtmodus. Der Nachtmodus ist ein Moment der Keynote, der in Erinnerung bleibt. Huawei-CEO Richard Yu radebrecht enthusiastisch über den Nachtmodus und erwähnt oft «Long Exposure» also die Langzeitbelichtung.
Die roten Blumen habe er mit blossem Auge gar nicht gesehen. Die Kamera aber sehe nicht nur Blumen, sondern auch deren Farbe. Auf dem Bild sind tatsächlich rote Blumen zu sehen. In der Praxis aber vermute ich, dass es sich nicht um eine Langzeitbelichtung handelt. Oder nicht nur. Denn wenn ich das Kamera-System genau ansehe, dann bemerke ich überall die Kirin Engine, die mir hilft. Oder meint, zu helfen.
Über das Resultat brauchen wir aber nicht zu streiten. Denn die Nachtbilder sind sehr hübsch gelungen. Natürlich muss ein Vergleich mit der Konkurrenz her. Also schnappe ich mir mein Samsung Galaxy S9+ und mein Huawei P20 Pro, ein Shoulderpod und ein Stativ. Die Settings lasse ich auf Auto, also Samsung mit DRAM und Huawei mit Kirin. Da Livia Gamper mit von der Partie ist, testen wir auch gleich noch das Wiko View 2. Klar, das Billighandy der Franzosen wird verlieren, aber ist es wirklich viermal schlechter als die Flaggschiffe?
Eine Zürcher Nacht
Livia und ich gehen also in die Zürcher Nacht. Wir suchen uns einen Ort, an dem Licht und Dunkel sich begegnen und der auch noch recht hübsch aussieht. Da wir möglichst das gleiche Bild mit jeder Kamera wollen, haben wir ein Stativ und Teile eines Shoulderpods dabei, da wir so das Smartphone auf das Stativ schrauben können.

Während des Tests zeigt das Huawei P20 Pro ein etwas inkonsistentes Verhalten. Selbst wenn für das menschliche Auge sich nichts ändert, entscheidet der Automodus sich manchmal für eine Langzeitbelichtung von bis zu 30 Sekunden, manchmal für einen Schnellschuss. Die anderen Testphones schiessen alle schnell. Daher lassen wir die Langzeitbelichtung, auch wenn sie gelungen ist, im Vergleich weg.
Huawei P20 Pro

Samsung Galaxy S9+

Huawei Mate 10 Pro

Wiko View 2

Jetzt ist die Sache aber die: In der Zeit, die ich für den Test hatte, komme ich zu keinem Schluss ausser «Die Bilder sind gut». Vor allem auch muss ich noch herausfinden, wie genau die drei Kameras zusammenspielen und spekulieren, wie die Kirin-Plattform in das ganze reinspielt. Ich geh dem mal nach.
Da die Shots hier auf der Seite recht identisch aussehen, vor allem der Vergleich zwischen Galaxy S9+ und P20 Pro, habe ich die unbearbeiteten Bilder auf unseren Download-Server geladen. So kannst du zoomen und jeden Pixel einzeln untersuchen. Das lohnt sich. Vor allem unten rechts beim Steg und oben links beim Migros-Logo. Sonst sind noch die Laterne und die Tiefe des Flusses interessant.
Und der Rest so?
Der Rest des Huawei P20 Pro überzeugt ebenfalls, manchmal aber erst nach Umbau und auf den zweiten Blick.
Besonders auffällig ist das Design der Vorderseite. Wo andere Hersteller, allen voran Apple, den Home Button abgeschafft haben, schwört Huawei weiter darauf. Nur, dass das kein Knopf ist, sondern eine haptisch abgegrenzte berührungsempfindliche Fläche. Die ist gleichzeitig auch der Fingerprint Scanner. Oben eine Einbuchtung wo Ohrlautsprecher und Selfie Cam verbaut sind, ein sogenannter Notch. Notches sind etwas kontrovers diskutiert, denn sie verdecken, wenn die Software schlecht optimiert ist, Teile des Bildschirms. Bei Huawei ist das weniger das Problem, aber trotzdem ist das Mümümü online gross. Mich stört das wenig, aber mich haben Notches noch nie wirklich gestört. Wenn überhaupt, dann finde ich es recht interessant, wenn die Grenze zwischen Bildschirminhalt und Hardware etwas verschwimmt.

Quelle: Thomas Kunz
Dann ist da die Sache mit dem Kopfhörer-Jack. Das Huawei P20 Pro hat keinen mehr. Das #donglelife stört mich in der Regel auch nicht, aber beim P20 Pro habe ich mich zum ersten Mal drüber geärgert, dass ich nicht gleichzeitig Musik hören und das Phone aufladen konnte. Das liegt nicht daran, dass der Akku wie beim grossen Gegner S9 schwach ist, sondern dass ich das Phone weit mehr benutze als andere Testgeräte. Da kam es nach etwa 16 Stunde Akkubetrieb auf der Reise von St. Gallen nach Zürich dazu, dass der Akku so langsam Anstalten machte, zu Neige zu gehen. Die berühmt-berüchtigte 15-Prozent-Warnung blinkt auf. Wäre an sich kein Problem, da ich eine Powerbank im Rucksack habe. Aber ich wollte auch Musik hören. Ein Entscheid musste fallen. Musik. Ärger.
Wir sehen uns am Ende des Jahres wieder
Ich lehne mich mal aus dem Fenster: Das Huawei P20 Pro ist das Phone des Jahres. Klar, das Jahr ist erst drei Monate und ein paar Tage alt, aber damit die Konkurrenz mit dem Phone mithalten kann, muss sie sich ordentlich anstrengen. Das P20 Pro hängt einfach mal das Galaxy S9 ab und delegiert den grössten Chiphersteller der Welt auf den zweiten Rang.
Huawei setzt neue Standards. Nicht nur in Punkto Bildqualtät und künstliche Intelligenz, sondern auch in der Art und Weise, wie die Industrie mit Hardware und deren Planung umgeht.
Ganz starke Leistung, Huawei.


Journalist. Autor. Hacker. Ich bin Geschichtenerzähler und suche Grenzen, Geheimnisse und Tabus. Ich dokumentiere die Welt, schwarz auf weiss. Nicht, weil ich kann, sondern weil ich nicht anders kann.