Ratgeber

«Wenn die Sonne lacht, nimm Blende acht!» – eine Eselsbrücke für Esel

David Lee
6.5.2019

Woher dieser Spruch kommt, was er bezweckt, und vor allem: Warum er nichts taugt.

Der Merksatz ist eine der meist nachgeplapperten Fotografie-Weisheiten. Aber in der Zwischenzeit sollte sich herumgesprochen haben, dass etwas noch lange nicht wahr ist, nur weil es sich reimt. Ich halte die Eselsbrücke im heutigen Zeitalter für Quatsch.

Welche Blende für dein Foto ideal ist, hängt von zahlreichen Faktoren ab:

  • Wie viel Tiefenschärfe du willst. Eine offene Blende ergibt eine geringe Tiefenschärfe und lässt den Hintergrund verschwimmen. Eine geschlossene Blende bildet den grössten Teil des Bildes scharf ab.
  • Damit zusammenhängend: Wie nahe du am Motiv bist und wie weit dieses vom Hintergrund entfernt ist. Makro-Aufnahmen mit offener Blende kommen selten gut. Die Tiefenschärfe ist so gering, dass kaum noch etwas zu erkennen ist.
  • Welche Belichtungszeit du brauchst. Beispiel: Ein Vogel im Flug benötigt Verschlusszeiten von 1/2000 Sekunde oder noch weniger, damit er scharf abgebildet wird. Das braucht extrem viel Licht, also auch bei Sonnenlicht eine offene Blende. In solchen Fällen macht es kaum Sinn, die Blende manuell zu wählen – sie hat sich gefälligst deiner Verschlusszeit anzupassen.
  • Ob du Bokeh-Effekte oder Blendensterne kreieren willst.
  • Wie viel Licht dir zur Verfügung steht.

Der Spruch «Wenn die Sonne lacht, nimm Blende acht» berücksichtigt nur gerade den letzten Faktor. Und der wird mit dem technischen Fortschritt immer weniger wichtig.

Blende 10 ist kleiner als Blende 8, aber hier immer noch zu gross: Schon die Härchen des Insekts sind nicht mehr scharf. Die Tiefenschärfe ist auf diese Distanz zu gering.
Blende 10 ist kleiner als Blende 8, aber hier immer noch zu gross: Schon die Härchen des Insekts sind nicht mehr scharf. Die Tiefenschärfe ist auf diese Distanz zu gering.
Die Belichtungszeit beträgt hier 1/8000 Sekunde. Blende 8 hätte in diesem Fall zu wenig Licht gegeben.
Die Belichtungszeit beträgt hier 1/8000 Sekunde. Blende 8 hätte in diesem Fall zu wenig Licht gegeben.

Woher kommt der Spruch?

Vor dem digitalen Zeitalter, also als die Welt noch mit Film fotografierte, war die ISO-Empfindlichkeit durch den Film festgelegt und meist sehr tief. Der Fotograf konnte die Empfindlichkeit nicht hochschrauben, wenn zu wenig Licht vorhanden war.

Wenn umgekehrt sehr viel Licht vorhanden war, konnte er keine allzu grosse Blende verwenden, weil viele frühere Kameras nicht so kurz belichten konnten wie heutige Geräte. Eine offene Blende hätte im Sonnenlicht auch bei tiefer ISO zu Überbelichtung geführt.

Daher war der Zusammenhang zwischen Lichtmenge und Blende früher viel wichtiger als heute. Der mittlere Bereich um Blende 8 als grobe Faustregel war sinnvoll, auch wenn schon damals je nach Situation eine andere Blende gefragt sein konnte.

Der mittlere Bereich um Blende 8 herum hat darüber hinaus einen noch heute gültigen Vorteil: Die meisten Objektive sind mit dieser Einstellung am schärfsten. Mit ganz offener oder ganz geschlossener Blende weisen sie leichte Schwächen in der Abbildungsleistung auf.

Fazit: Spreng die Eselsbrücke

Starre Regeln bei der Fotografie zwingen dich in ein Korsett. Im Fall von «Wenn die Sonne lacht, nimm Blende acht» ist das Korsett nicht nur besonders eng, sondern auch sinnlos. Es bietet nicht einmal einen ungefähren Anhaltspunkt, sondern hält dich lediglich davon ab, die Blende richtig anzuwenden.

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Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere. 


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