Hintergrund

Stress-Test: Meine Erfahrungen mit der Stresslevel-Messung von Smart Watches

David Lee
1.11.2018
Bilder: Livia Gamper

Die Stress-Messung der Smart Watch funktioniert nicht so, wie ich will. Das stresst mich. Zwei Testgeräte, einen Monat, einen Horrorfilm und ein Interview später habe ich trotzdem einiges gelernt. Ein Erfahrungsbericht.

Viele Smart Watches können mittlerweile das Stress-Level messen. Oder sie tun zumindest so, als ob sie es könnten. Ich will mir das genauer ansehen und hole mir auf Ratschlag von Andrea Jacob die Garmin Vivoactive 3 Music. Diese Uhr fühlt sich auch an meinem schmalen Handgelenk leicht und bequem an und macht mir einen sehr guten Eindruck.

Die Smart Watch zeigt das Stresslevel als Zahl zwischen 0 und 100 an. Anders als bei anderen Messwerten wie Puls, Anzahl Schritten oder hochgestiegener Treppen ist nicht ohne weiteres klar, was der Wert bedeutet und was überhaupt gemessen wird. Laut Garmin wird das Stress-Level aus der Herzfrequenz-Variabilität abgeleitet. Wenn das Herz sehr regelmässig schlägt, zeigt die Uhr einen tiefen Wert an, während sehr unregelmässiger Herzschlag auf Stress hindeutet.

Nun ist der Puls im Alltag aber sowieso sehr unregelmässig. Das kann selbst ich mit Sicherheit sagen, obwohl ich ein völliger Laie auf medizinischem Gebiet bin. Nur schon, wenn ich am Morgen aufstehe, steigt der Puls von unter 70 auf weit über 100. Das ist wohl der Grund, wieso die Uhr den Stress nur ermitteln kann, wenn ich mich während mindestens 30 Sekunden nicht bewege. Die Messung kann auf permanent gestellt oder manuell durchgeführt werden. Im Permanent-Modus liefert sie einfach kein Ergebnis, wenn ich in Bewegung bin.

So weit, so gut. Es gibt allerdings ein Problem: Die Stresslevel-Messung funktioniert bei mir auch dann oft nicht, wenn ich stillhalte. Die Uhr meckert dann, ich solle stillhalten (ja, ja) oder den Sitz am Handgelenk prüfen (sie sitzt perfekt).

Nach einigen Tagen komme ich darauf, dass auch die Pulsmessung nicht immer richtig funktioniert. Sonst würde mein Puls nicht auf dem Rennvelo innert einer Minute von 150 auf 90 zusammenfallen. Wenn schon der Puls nicht immer richtig ist, ist es auch kein Wunder, dass die Stressmessung keinen Wert ermittelt.

Weiter geht’s mit der Samsung Galaxy Watch

So kann ich mich nicht richtig mit der Stressmessung auseinandersetzen. Ich wechsle also die Uhr und schnappe mir die Samsung Galaxy Watch, die gerade noch hier ist, weil sie Luca getestet hat. Dieser Klotz passt mir zwar weniger gut als die Garmin-Uhr, dennoch scheine ich hier mit den Messresultaten mehr Glück zu haben.

Das Prinzip ist dasselbe wie bei Garmin. Auch bei dieser Smart Watch kann in Bewegung nichts gemessen werden und der Stresspegel wird aus der Herzschlag-Variabilität berechnet. Das behaupte ich jetzt einfach mal, weil bei der Messung so etwas wie ein EKG gezeigt wird. Samsungs Informationen dazu sind nichtssagend: «Der Stress-Tracker misst bestimmte Biomarker, um Ihren Stresspegel festzustellen.»

Ich will mich typischen Stress-Situationen stellen und die Messresultate mit meinem Befinden vergleichen. Doch ein paar der Ideen kann ich mir abschminken, etwa Samstags-Shopping in überfüllten Einkaufszentren. Das funktioniert nicht, weil ich dabei in Bewegung bin. Was mich auch zuverlässig stresst, ist Pendeln in überfüllten Zügen. Da ist auch nicht viel rauszuholen. Wenn ich in der S-Bahn sitze, gelingt die Messung manchmal, aber die grössten Stressmomente sind das Ein-, Aus- und Umsteigen, und da kann wegen zu viel Bewegung wieder nichts gemessen werden. Es bleiben noch zwei oder drei Ideen, die ich ausprobieren kann.

Selbstexperiment 1: Zeitungslesen

Die meisten Menschen stufen mich als eher ruhigen Typen ein. Aber beim Zeitungslesen bin ich zu überraschend cholerischen Ausbrüchen fähig, so im Stile von «Inside out»:

Ich klaube mir also wieder mal ein gedrucktes Erzeugnis des hiesigen Qualitätsjournalismus und informiere mich über empörende Skandale und die grosse Ungerechtigkeit in dieser Welt. Ergebnis: Ich bin total entspannt.

Aber stimmt das? Gar nicht so einfach zu sagen, denn entspannt muss ja nicht heissen, dass ich glücklich und zufrieden bin. Umgekehrt bedeutet grosse Anspannung nicht unbedingt, dass ich ein Problem habe. Sich verlieben ist in gewisser Weise ein Riesenstress. Auch ein Gruselfilm verschafft uns eine Art von Stress, die wir offenbar haben wollen – sonst würden wir sie uns nicht freiwillig antun.

Die Zeitungslektüre macht mir zwar durchaus ein wenig schlechte Laune, aber von Stress würde ich nicht sprechen. Dazu ist stärkerer Tobak nötig. Ich wende mich also vertrauensvoll an das Online-Qualitätsmedium 20min.ch und werde sofort fündig.

Medien sollen positiv über Migration schreiben

Das Thema Migration ist natürlich optimal, um die Wände hochzugehen. Die einen regen sich ja schon darüber auf, dass es so etwas wie Migration überhaupt gibt und lassen das die anderen in Millionen von gehässigen Kommentaren wissen. Das wiederum ärgert dann die, die zuerst noch cool waren. Am Schluss regen sich alle auf. Ich mich auch.

Aber mich stresst hier vor allem, dass ich gar nicht weiss, worüber ich mich genau aufregen soll. Dass hier jemand den Medien vorschreiben will, wie sie über etwas zu berichten haben, finde ich als Medienschaffender natürlich nicht lustig. Andererseits: Stimmt das überhaupt? Oder versucht hier nur wieder mal jemand, sich einen Skandal aus den Fingern zu saugen? Ich habe schon den Eindruck, dass hier Empörungsbewirtschaftung betrieben wird. Und das regt mich sogar noch mehr auf, obwohl es wahrscheinlich weniger schlimm ist.

Diese sich überlagernden Aufreger verdichten sich zu einem unbekömmlichen Klumpen. Jetzt sollte ich genug getresst sein, um den Pegel auf der Uhr zum Ausschlagen zu bringen. Und tatsächlich: Die Uhr zeigt mein Befinden absolut korrekt an.

Selbstexperiment 2: Horrorfilm schauen

Das war nicht meine Idee. Ich habe wenig Ahnung von Filmen und noch weniger von Horrorfilmen. Aber mir gegenüber sitzt ja TV-, Film- und Kino-Experte Luca Fontana. Er empfiehlt mir den neuen «Es».

Da ich unter Zeitdruck bin, muss ich den Film noch heute haben und stresse in den Orell Füssli. Dort haben sie aber nur den alten «Es». Da ich auch den noch nie gesehen habe, kaufe ich halt diesen.

Das Es gibt sich ja alle Mühe: Es blubbert Blut aus der Kanalisation, fletscht mit den Vampirzähnen und droht damit, die Kinder aufzufressen. Doch laut Messung ich bin tiefenentspannt. Die Grafiken zeigen die Zeit zwischen 20 und 21 Uhr beziehungsweise 21 und 22 Uhr. Der Film dauerte von 20:15 bis 21:45, weil nur Teil 1 auf der DVD war.

Bei Minute 15 beginnt der Film – der Stress lässt stark nach. Angeblich.
Bei Minute 15 beginnt der Film – der Stress lässt stark nach. Angeblich.
Auch später bleibe ich laut Uhr ganz ruhig.
Auch später bleibe ich laut Uhr ganz ruhig.

Statistikauswertung: eine Woche Stress-Test

Ich hatte die Stressmessung über längere Zeit permanent eingeschaltet. Schauen wir doch mal die Ergebnisse einer ganze Woche an.

Samstag: Ganzer Tag sehr easy, abends kurz Stress.

Dass ich einen lockeren Tag hatte, stimmt. Die Lücke am Vormittag ist auch nachvollziehbar: ich musste helfen, ein Segelschiff zum Auswassern vorzubereiten. Dass ich am Abend Stress hatte, daran kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Ich war nicht mal im Ausgang.

Sonntag: Ruhig mit ein paar Stressmomenten.

Dass ich am Sonntagmorgen um etwa 9 Uhr Stress hatte, stimmt nicht. Wahrscheinlich habe ich einfach viel Kaffee getrunken. Die Lücke am Nachmittag war ich Fussball spielen. Vorher und nachher etwas Betriebsamkeit.

Montag: Stress beim Aufstehen, am späteren Nachmittag und am Abend.

Naja, Montagmorgen sind mühsam, und nach dem Aufstehen gibts eine Menge zu tun: Fenster auf, Kaffeekocher auswaschen, Kaffee kochen, Frühstück vorbereiten und essen, Zähne putzen, duschen, Toilette, anziehen, Sachen zusammenpacken, zum Bahnhof. Ich habe mir zudem angewöhnt, am Morgen auch ein paar Dehnungs- und Kraftübungen zu machen. Kurz: es gibt viel zu tun und es besteht ein gewisser Zeitdruck, aber ich empfinde das nicht als unangenehmen Stress. Im Gegensatz dazu verhalte ich mich bei der Arbeit im Büro körperlich passiv, treffe dort aber immer wieder auf Situationen, die ich recht unangenehm finde und für die ich oft auch nicht gerade eine gute Lösung weiss. Das bedeutet für mich Stress. Die Uhr zeigt das aber kaum an.

Dienstag: Am besten ausspannen kann ich im Büro.

Was für ein Quatsch! Dass die Mittagspause unter den goldgelben Birken und dem tiefblauen Himmel der schönen Herbstsonne ein Riesenstress gewesen sein soll, lasse ich mir nicht angeben. Überhaupt scheint irgendwie Essen laut diesen Smart Watches ein grosser Stress zu sein. Wenn dem so ist, handelt es sich auf jeden Fall um positiven Stress, also Eustress.

Mittwoch: Stressiger Morgen, easy Nachmittag und Abend.

Am Morgen erledigte ich Haushaltsarbeit wie Waschen, Putzen und Einkaufen. Stressig war das aber keineswegs. Am Nachmittag kam ein Handwerker und verwandelte mein Wohnzimmer in eine Staubhölle. Das stresste mich, die Uhr merkt es nicht. Auch mein abendlicher Ausgang ist in der Grafik nicht sichtbar. Meine freien Tage sind sehr stressarm, aber ich bin halt teilweise recht aktiv, hocke nicht den ganzen Tag vor dem Bildschirm.

Donnerstag: Guten Morgen liebe Sorgen

An diesem Tag bin ich etwa zur gleichen Zeit aufgestanden wie immer, habe aber die Uhr erst nach der Morgenroutine angezogen. Genützt hat es nichts: Es gab trotzdem zuerst mal einen Stress-Eintrag. Am Abend, wo eine Lücke klafft, war ich joggen. Was mich später am Abend gestresst haben könnte, weiss ich nicht. Wahrscheinlich war es wieder das Essen.

Freitag: Schon halb im Wochenende

Laut Messung der entspannteste Tag der Woche. Naja. Zumindest der ganz tiefe Bereich am Mittag ist falsch. Da hatte ich ich eine recht hektische Phase, weil ich am Nachmittag weg musste und vorher noch einige dringende Dinge erledigt werden mussten. Nachmittags half ich bei Abbruch- und Entsorgungsarbeit. Stress war das nicht, aber Erholung pur auch nicht.

Während der langen Testphase habe ich hin und wieder den Verdacht, dass die Uhr nicht richtig zwischen Stress und Aktivität unterscheiden kann. Daher die Frage: Gibt es einen Zusammenhang zwischen hohem Puls und hohem Stress? Der Vergleich der Mittelwerte zeigt kein eindeutiges Bild. So grob stimmen die Kurven überein, am 25. Oktober jedoch nicht.

Der stundenweise Vergleich lässt noch weniger auf einen Zusammenhang schliessen. Ich langweile dich deshalb nicht mit noch mehr Grafiken.

Was der Sportwissenschaftler von den Messungen hält

Letztlich dreht sich hier alles um die Frage, was Stress überhaupt ist und wie er gemessen werden kann. Jemand aus dem medizinischen Umfeld müsste das beantworten können. Ich wende mich an Matthias Ludwig, Sportwissenschaftler an der Sport Clinic Zurich. Er hat bereits unseren Sportredaktor Patrick Bardelli einem gründlichen Belastungstest unterzogen. Matthias Ludwig definiert Stress so: Der Körper hat ein bestimmtes Leistungsvermögen, und wenn wir das Gefühl haben, dass dieses für ein bestimmtes Problem oder eine bestimmte Aufgabe nicht hoch genug ist, bekommt der Körper Stress. Das äussert sich durch zahlreiche Indikatoren wie einer Erhöhung des Cortisonspiegels oder einer Adrenalinausschüttung, die wiederum eine Erhöhung der Herzfrequenz zur Folge hat.

Kann man Stress also objektiv messen? So, wie es die Sportuhren mit ihrem Infrarotchip zur Bestimmung von Puls und Herzfrequenz-Variabilität tun? Antwort: «Das kann unter gewissen Rahmenbedingungen funktionieren.» Sich nicht bewegen ist nur eine Bedingung von vielen, die er erwähnt: Alkohol, Kaffee, Schlafmenge und -qualität, Reisetätigkeit, soziales Umfeld sowie das generelle Wohlbefinden haben ebenfalls einen Einfluss und sollten bei der Interpretation der Resultate berücksichtigt werden. «Kopfschmerzen können die Messung beeinflussen. Es stellt sich dann aber die Frage, ob du gestresst bist, weil du Kopfschmerzen hast, oder ob du Kopfschmerzen hast, weil du gestresst bist.»

Die Antwort darauf suchst du besser bei dir selber und nicht auf der Uhr. Matthias: «Wenn du Stress hast, dann merkst du das in der Regel auch.» Daher laufe es normalerweise so: Jemand merkt, dass etwas nicht stimmt, und lässt sich dann untersuchen. Dagegen weiss jeder, der schon einmal eine Smart Watch ausprobiert hat, dass die Reihenfolge umgekehrt ist: du misst erst mal munter drauf los, und versuchst dann, etwas zu interpretieren.

Bei mir läuft dieser Umstand darauf hinaus, dass ich die Uhr kontrolliere statt umgekehrt. Sprich: Ich weiss bereits, ob ich Stress habe oder nicht, und prüfe dann, ob es die Uhr auch richtig anzeigt. Das ist – ausserhalb eines Produkttests – natürlich sinnlos.

Generell hält Matthias Ludwig die Herzfrequenz-Messung der Smart- und Sportuhren nicht für zuverlässig. Selbst grosse Hersteller würden das auf Anfrage einräumen. Das leuchtet mir ein, denn sonst gäbe es für Garmin keinen Grund, zusätzlich Herzfrequenz-Brustgurte anzubieten.

Garmin Premium Herzfrequenz-Brustgurt
Pulsgurt

Garmin Premium Herzfrequenz-Brustgurt

Meine Erfahrung: Die Samsung Galaxy Watch misst bei mir zwar recht zuverlässig, soweit ich das beurteilen kann, aber es gibt auch Aussetzer. Am Mittwochmorgen misst sie zuerst eine halbe Stunde gar nichts, dann diagnostiziert sie mir einen Puls von 29 Schlägen pro Minute. Ich bin aber weder halb tot noch Miguel Indurain. Wenn die Uhr tatsächlich frühere Messwerte smart mit einbezieht, könnte sie auch selbst draufkommen, dass dies kein gültiger Wert sein kann.

Auch von der Idee, durch eine Smart Watch ein EKG machen zu lassen, hält Matthias nicht viel. Apple hat dies in der neusten Apple Watch integriert, aber erst in den USA die Zulassung dafür erhalten. «Hier wird ein peripherer Puls gemessen – in wie weit man daraus eine Diagnose ableiten kann, wird momentan diskutiert», sagt der Sportwissenschaftler.

Fazit

Zwar finde ich Stress-Messungen via Armbanduhr technologisch interessant, komme aber zum Schluss: Für aussagekräftige Ergebnisse müsste die Messung der Herzschlagfrequenz genauer und robuster sein. Und selbst dann lässt sich Stress nicht auf diesen Faktor reduzieren. Auch wenn Samsung vage andeutet, dass ihre Uhr weitere Faktoren einbezieht, ist die Funktion für mich bislang nicht mehr als ein Gimmick. Keinesfalls würde ich aus den Ergebnissen irgendwelche Regeln ableiten, wie ich mein Leben führen sollte. Da höre ich lieber auf mein Bauchgefühl, das hat mich noch selten getäuscht.

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Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere. 


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