Stau auf Google Maps simulieren: Ist möglich, aber…
In Berlin erzeugt ein Künstler einen virtuellen Stau auf Google Maps, indem er mit 99 Handys auf einer Strasse läuft. Schaffen wir es, den Google Maps Hack in Zürich zu reproduzieren oder ist das Video ein Fake?
Das Video schlägt hohe Wellen: Ein Typ zieht einen quietschenden, roten Leiterwagen hinter sich her. Der Leiterwagen ist bis zum Rand gefüllt mit Smartphones. Simon Weckert, so heisst der Typ, ist Künstler. Er läuft mit seinem Wagen mitten auf einer Strasse in Berlin. Dann wird im Video der Google Maps Abschnitt eingeblendet, auf dem sich er befindet. Die Strasse ist leer und der Kartenabschnitt grün – bis sich der Abschnitt plötzlich orange und schliesslich rot einfärbt.
Mit seinem Leiterwagen hat es Weckert geschafft, dass Google Maps einen Verkehrsstau anzeigt, obwohl die Strasse fast autofrei war. Aber ist das Video echt? Kann das sein? Ist Google Maps so einfach zu beeinflussen?
Um die Fragen zu lösen, bleibt eigentlich nur eins: Kollege Dominik Bärlocher und ich probieren das aus.
Was wir aus dem Video wissen
Uns ist schnell klar, dass es nicht funktioniert, einfach mit ein paar Handys auf die Strasse zu stehen und auf einen Google-Maps-Stau zu hoffen. Also analysieren wir das Video des deutschen Künstler. Die folgenden Punkte sind uns aufgefallen:
Kein öffentlicher Verkehr
Wenn ein paar Phones auf der Strasse schon einen Google-Stau erzeugen, dann müsste jede Bus- oder Tramhaltestelle ständig Stau anzeigen. Denn in einem normalen Trolleybus haben über 114 Personen Platz. Das sind mehr als die 99 Handys, die Weckert in seinem Wägeli hat.
Unsere Recherche ergibt, dass an keiner der zwei Locations, die Weckert gewählt hat – an der Schillingbrücke und an der Ebertbrücke in Berlin – der öffentliche Verkehr fährt.
Google wird sehr wahrscheinlich Busrouten für die Stauanzeige herausrechnen. Denn eine Busroute ändert sich nicht und fast alle ÖV-Fahrpläne sind in Google Maps hinterlegt. Deshalb nehmen wir an, dass Google auf Busstrecken eine andere Toleranzgrenze für Staus anwenden als auf Strassen ohne ÖV.
Der Navigationsmodus
Im Video ist erkennbar, dass Weckert alle Handys im Navigationsmodus hat. Er hat auf allen Phones einen Zielpunkt eingegeben und folgt einer Autoroute. Somit kann er sich sicher sein, dass Google aktiv Location Data verarbeitet.
Aber: Google Maps übermittelt auch Daten, wenn die App nicht aktiv ist. So lange Google Maps die Berechtigung hat, im Hintergrund deine Standortdaten abzufragen, kann und wird Google deine Bewegungen aufzeichnen. Diese kannst du in deiner Google Maps Timeline ansehen.
Es sollte also auch möglich sein, einen Stau nur mit Phones zu machen, die Google Maps auf dem Phone haben und die Standortdaten aktiviert haben.
Die Länge des Staus: die Maps-Sektoren
Im Screenshot des Videos ist zu sehen, dass immer Streckenabschnitte, also Sektoren, rot werden. Der Stau von Weckert nimmt einmal etwa die Hälfte der Brücke ein, später die ganze, dann wieder ein kürzerer Abschnitt. Eine Messung mit Google Maps zeigt, dass die Brücke etwa 70 Meter lang ist. Bei 99 Personen ergibt das etwa einem Personenabstand von 70cm
Da Google weiss, dass auf der Brücke je eine Autospur pro Richtung fährt und da zwei Trottoirs sind, geht Google davon aus, dass die 99 Smartphonebesitzer hintereinander gehen. Denn nebeneinander haben sie keinen Platz.
Hier tut sich ein Widerspruch auf. Denn Google gibt die eigene Location immer «accurate to 20 meters» an. Dass der Stau sich so akkurat bewegt, könnte einen Grund haben: Den high-accuracy mode von Google. Dieser misst den Standort genauer als GPS. Hat der Künstler den Modus auf seinen Phones eingestellt, wird Google wissen, dass zu viele Leute auf der Brücke sind, und zeigt darum einen Stau an.
Das Experiment
Nach dieser Recherche wissen wir: Es sollte möglich sein, einen Stau zu simulieren, wenn genug Smartphones auf einem Haufen sind. Sofern zwei grundsätzliche Faktoren eingehalten sind:
- Nicht auf einer Route des öffentlichen Verkehrs
- Standortdaten des Phones aktiviert
Mit diesen zwei Thesen machen wir uns auf, das Experiment zu starten.
Weil wir nicht per Zufall 99 Handys in der Redaktion herumliegen haben, ist eine organisatorische Grossübung angesagt. Ein Rundmail, ein Doodle, viele Etiketten und Listen später haben wir 47 Handys von unseren Kollegen geordnet zusammen. Vorab bitten wir die Personen, die uns ihr Handy anvertraut haben, bei ihrem Phone die Google Location Services zu aktivieren. Wir nehmen jedes Handy mit, egal ob Android oder iOS.
Zu den 47 Handys mit SIM-Karte legen wir noch sieben Handys ohne SIM-Karte, die wir gerade bei uns rumliegen haben. Das macht dann 54 Smartphones.
Unsere eigenen Phones behalten wir, um die Geschehnisse tracken zu können. Um einen Stau den aktuellen Stau auf Google Maps zu sehen, haben wir jeweils die zugehörende Route eingegeben und dann in den Navigationsmodus gewechselt.
Mit Dominiks und meinem Phone sind wir schlussendlich bei 56 Handys. Das sind zwar weniger als im Video von Berlin, aber immernoch genug, dass wir an den Stau glauben.
Für den Test haben wir uns drei Strassenabschnitte ausgesucht, die wir virtuell verstopfen wollen.
Erste Strecke: Giessereistrasse, 8005 Zürich
Die Giessereistrasse gleich vor dem digitec-Shop scheint uns geeignet, da folgende Faktoren zutreffen:
- Kein öffentlicher Verkehr
- Wenig Autoverkehr
- Enge, kleine Strasse
Ein Teil der digitec-Mitarbeiter, die uns ihr Handy mitgeben, sitzt im Gebäude auf der anderen Strassenseite. Deshalb sind wir auf der Giessereistrasse vor unserem Shop zuerst mit 43 Phones unterwegs. Da wir noch etwas Zeit haben, bis wir mit den Mitarbeitern den Handy-Abgabetermin vereinbart haben, probieren wir, schon mal mit dem Set-Up von 43 Handys einen Stau zu erzeugen. Es zeigt sich: Wir kriegen keinen Stau hin. Auch wenn wir über fünf Minuten mit dem Handy-Wägeli mitten auf der Strasse hin und her laufen, macht die Stauanzeige von Google Maps keinen Wank.
Wir sind verunsichert. Scheitern wir schon jetzt? Ist das virale Video ein Fake oder haben wir sogar für die kleine Strasse zu wenige Handys?
Wir holen die restlichen Phones der Mitarbeiter im anderen digitec-Gebäude ab. Alle, die sich bereiterklärt haben, ihr Phone abzugeben, erscheinen, und wir plaudern noch kurz an der Ecke vor dem digitec-Café. Auf einmal sehen wir: An der Kreuzung der Förrlibuckstrasse haben wir schon unabsichtlich einen Stau erzeugt. Die Anzeige ist rot, obwohl nur wenige Autos vorbeifahren.
Zurück an der Förrlibuckstrasse, unserer ersten Teststrecke, zeigt sich: Nach wenigen Minuten gibt Google Maps zuerst einen gelben und nachher einen roten Stau an. Das können wir mehrmals reproduzieren. 56 Handys sind also genug, um auf einer kleinen Strasse einen virtuellen Stau zu erzeugen. Wir können sogar den Stau in Richtung Puls 5 verschieben, denn an der Kreuzung Giessereistrasse/Technoparkstrasse ist eine Sektorgrenze. Wir nehmen an, dass Google dort eine andere Stautoleranzgrenze hat – wie weiter vorne auf der Strasse.
Die Sektoren werden wohl von logischem Verkehrsknotenpunkt zu logischem Verkehrsknotenpunkt gehen. Das kann eine Kreuzung, eine Kurve oder etwa die Mitte einer Brücke sein. Eine abschliessende Liste inklusive Erklärung der Sektoren könnte aber nur Google selbst liefern.
Zweite Strecke: Förrlibuckstrasse, 8005 Zürich
Die Förrlibuckstrasse ist etwas grösser. Sie haben wir ausgesucht, weil:
- Viel Autoverkehr
- Kein öffentlicher Verkehr
- Wenig Fussgänger
- Breite Strasse
Dass wir die Kreuzung Förrlibuckstrasse/Duttweilerstrasse virtuell stauen können, haben wir bereits herausgefunden. Obwohl da einige Ampeln sind, sind 56 Phones doch zu viele GPS-Signale, als dass Google den Verkehrsfluss garantieren könnte. Daher: Stau auf Maps.
Nun wollen wir wissen, wie es mit dem Rest der Strasse aussieht. Wir sind mitten auf dem Strassenabschnitt zwischen Duttweilerstrasse und dem Parkhaus P-West. Hier zeigt sich nach mehreren Minuten Probieren und Warten: Wir können den Abschnitt nicht stauen.
Wir vermuten, dass das Parkhaus, das sich gleich neben der Strasse befindet, der Grund ist. Google Maps wird gelernt haben, dass da den ganzen Tag viele Autos langsam herumfahren. Durch Googles Messungenauigkeit wird das Feld «Parkhaus» mit der Strasse überlappen. Daher weiss Google Maps, dass viele Autos langsam auf der Strasse kurven. Das Staulimit ist daher entsprechend höher und wir schaffen es nicht, das Limit zu überschreiten.
Dies bestätigt unsere Vermutung nochmals: Jeder Google-Maps-Strassentyp hat ein eigenes Staulimit. Grössere Strassen brauchen mehr Autos, um zu stauen, kleinere Strassen aber verstopfen schon ab wenigen Phones. Dazu kommen noch andere Faktoren, wie eben das Parkhaus, wohl aber auch wiederkehrende Stosszeiten, die Google kennen und einberechnen wird.
Dritte Strecke: Pfingstweidstrasse, 8005 Zürich
Als Hauptverkehrsachse der Stadt Zürich hat die Pfingstweidstrasse alles:
- Öffentlicher Verkehr
- Unzählige Autos
- Fussgänger
Die Pfingstweidstrasse wäre der Endgegner für unser Experiment. Die Strasse hat als Autobahnzubringer ständig viel Verkehr und die Tramhaltestellen der Linie Vier säumen die rechte Seite der Strasse.
Nachdem wir schon an der Förrlibuckstrasse gescheitert sind, erwarten wir nicht mehr, hier einen Stau erzeugen zu können. Der Vollständigkeit halber stehen wir trotzdem auf eine Verkehrsinsel mitten auf der Pfingstweidstrasse und warten. Es passiert rein gar nichts.
Zu viele Faktoren, die Google sagen, dass hier kein Stau ist, treffen zu.
Dazu kommt, dass hunderte Autos an uns vorbeifahren. Die 56 stehenden GPS-Signale werden von Google wohl einfach als Anomalie angesehen und herausgerechnet. Denn wenn hunderte andere Signale mit hoher Geschwindigkeit vorwärtskommen, kann es nicht sein, dass da ein Stau ist.
Unsere Schlüsse
Mit 56 Handys ist es möglich, eine kleine Strasse zu verstopfen, wenn genügend Faktoren zutreffen. Bei grösseren Strassen wird’s schwierig bis unmöglich, einen virtuellen Stau zu erzeugen. Daneben haben wir auch viel über Google Maps gelernt.
Diese Punkte sind uns besonders aufgefallen:
- Viele Faktoren fliessen in eine Stauanzeige ein
- Google ist mächtig und gescheit
- Maps erkennt Anomalien schnell
- Die Stauanzeige ist schnell
- Aber wir wissen eigentlich nichts
Die Stauanzeige auf Google Maps ist ein riesiges Konstrukt. Als Mensch kommst du da kaum nach. Und nur weil hier heute einen Stau produzieren konnten, heisst das nicht, dass das morgen noch immer funktioniert. Google arbeitet ständig an der App.
Als Google mit dem Kunstprojekt Weckerts konfrontiert wurde, hiess es vom Suchgiganten auf Anfrage des Tech-Magazins 9to5Google:
Sprich: Google arbeitet stets an Verbesserungen der Datenqualität. Es ist also denkbar, dass Weckerts und unser Hack nur funktioniert hat, weil sonst nicht viele Leute auf so eine Idee kommen.
Die Staufunktion von Google ist mächtig. Siehst du in der App einen Stau, wirst du die Strecke meiden und einen Umweg machen. Aber: Wie viele Leute kurven mit Google Maps durch die Strasse? Viele Autos haben eingebaute Navis oder teure Navigationsgeräte wie solche der Marke TomTom im Einsatz. Dazu kommen noch die Autofahrer, die ihre Route kennen und ohne Navigationsgerät herumfahren.
Jedoch setzt sich vor allem in Grossstädten Google Maps immer mehr durch, weil hier die Verkehrssituation am aktuellsten ist. Deshalb ist der Hack so mächtig. Doch auch wenn das alles sehr cool ist: Bitte mach das nicht nach und sei immer vorsichtig auf der Strasse.
Experimentieren und Neues entdecken gehört zu meinen Leidenschaften. Manchmal läuft dabei etwas nicht wie es soll und im schlimmsten Fall geht etwas kaputt. Ansonsten bin ich seriensüchtig und kann deshalb nicht mehr auf Netflix verzichten. Im Sommer findet man mich aber draussen an der Sonne – am See oder an einem Musikfestival.