Eine Videothek will die DVD vor dem Aussterben retten
Wer leiht sich heute noch Filme auf DVD aus? Auf Suche nach Antworten in Zürichs letzter Videothek.
Zürich. Kreis 1. Drei kleine Steinstufen führen zu einer blauen Tür geziert von Edding-Tags. Dahinter eine fast vergessene Welt.
Im hellen Tageslicht reiht sich in unzähligen Regalen DVD-Hülle an DVD-Hülle. Bei den meisten ist gerade einmal der schmale Rücken zu sehen. Nur wenige, vor allem Neuerscheinungen, dürfen ihr ganzes Cover zeigen. Kein Wunder. Auf zwei kleine Stockwerke müssen die 40'000 DVDs mit Filmen und Serien der letzten Videothek in Zürich passen.
Das «Les Videos» ist Filmverleih, Filmarchiv und seit 2014 auch Filmverein. Etwa 500 Mitglieder hat er heute. Die meisten davon besitzen ein Flatrate-Abo für 365 Franken, der Rest ein Halbtax für 88 Franken pro Jahr. Wie bei der SBB gibt’s die Filme bei letzterer Variante zum halben Preis, bei ersterer ist alles drin – analog zum General Abonnement. Alle anderen müssen pro DVD-Miete acht Franken Miete bezahlen. «Da willst du als Kunde natürlich keinen Fehler machen und lässt lieber einmal einen Film liegen. Mit der Flatrate wagst du Experimente, wodurch all die schönen Filme eher in Umlauf kommen», sagt Fabio, der Vereinspräsident.
Eine Person genügt
Genau wegen dieser schönen Filme und ihrer Faszination für das Medium arbeitet Baiba hier. Sie kommt gerade durch die blaue Tür herein, woraufhin ein leises Glöckchen erklingt. Heute schmeisst sie den Laden. Fabio muss bald Geld verdienen gehen. Er übt sein Amt ehrenamtlich aus und ist nicht ins operative Geschäft involviert. Baiba setzt sich sofort an die Kasse, über der momentan als Schutzmassnahme eine eingerahmte Glasscheibe schwebt und die Mitarbeiterin so zu einem lebendigen Gemälde werden lässt. Hinter ihr an der Wand steht ein mit transparenten Hüllen vollgestopftes Regal. «Die Filme selbst behalten wir bei uns hinten, damit sich ein Diebstahl gar nicht erst lohnt», erklärt Fabio.
Potentielles Diebesgut gäbe es genug. Vor allem im Kellergeschoss. Wie ein roter Teppich zieht sich ein breiter Farbstreifen mittig die Stufen hinunter. Er führt in ein mit Leuchtstoffröhren beleuchtetes Filmparadies: Klassiker befinden sich neben Kuriositäten und Regisseure neben Regionen. Zwischen den Regalen sind vereinzelt Stühle platziert, um sich die Klappentexte in Ruhe durchzulesen. «Damit wir einen Film ins Sortiment nehmen, muss ihn mindestens eine Person sehen wollen.» Sobald eine Anfrage kommt, wird danach gesucht. «Es gibt immer wieder Leute, die uns mit einem Musikladen verwechseln. Vor ein paar Wochen passierte das auch einem etwas älteren Herrn. Ich habe ihm erklärt, dass es auch Videoclips und Konzertmitschnitte auf DVD gibt. Sofort dachte er daran, wie er seine jetzige Frau in den 60ern an ein ‘Peter, Paul and Mary’-Konzert ausführte. Ob ich dazu eine DVD organisieren könne. Konnte ich», erzählt Baiba.
Genau diesen Service schätzen Kunden wie Antonina am «Les Videos». «Ich habe zwar meine eigene IMDb Watchlist, aber ich lasse mir gerne Filme von den Mitarbeitern empfehlen. Ich liebe diesen Film-Smalltalk.» Aber nicht nur wegen der Menschen, sondern auch wegen des physischen Mediums selbst kommt sie in die Videothek. «Ich behalte einen Film besser in Erinnerung, wenn ich ihn mir auf DVD ansehe, weil ich alles bewusster tue. Das Hingehen, das Ausleihen, das Einschieben – alles bekommt meine Aufmerksamkeit.» Streamingdienste wie Netflix oder Amazon Prime vereinfachen das Filmschauen zwar erheblich, das sei aber genau das Problem. «Eine DVD hat einen Anfang und ein Ende. Netflix dagegen will, dass du immer weiterschaust. Du hast gar keine Zeit, das Gesehene zu verarbeiten», sagt Fabio. Baiba nickt heftig. «Wenn du dann noch mehrere Tabs offen hast und gleichzeitig das Handy checkst, bekommst du gar nichts mehr mit.»
Ein Ort für Kultur
Obwohl die Tendenz zur medialen Dauerberieselung klar da sei, habe Fabio in den letzten Jahren eine Art Übersättigung festgestellt, die einen Kulturwandel eingeläutet habe – zumindest bei einem Teil der Bevölkerung. «Zwischen 2005 und 2016 bin ich von allen Seiten für die Videothek belächelt worden. Jetzt auf einmal bekomme ich viel Zuspruch. Die Leute wollen wieder vermehrt inhaltliche Qualität.» In seinen Augen ist die Videothek wie ein Bio-Laden in einer von Schnellrestaurants und Supermärkten dominierten Welt. Einzig das selbstgebastelte 24-Stunden-Rückgabesystem, das von einem Loch in der Fassade wie eine Rutsche zum Kellerfenster führt, kann es betreffend schneller Verfügbarkeit mit McDonald's und Co. aufnehmen.
Sima, eine langjährige Kundin, die heute ihren amerikanischen Schwiegersohn dabei hat, sieht die Videothek sogar als kulturelle Institution an. «Ich war jahrelang am Filmfestival in Locarno zu Gast. Immer, wenn ich zurückkam und mir das aktuelle Kinoprogramm anschaute, wurde mir bewusst, wie viel Kunst eigentlich verloren geht. Hier im ‘Les Videos’ findet man sie wieder. Hier gibt’s schwierige Filme. Hier gibt’s ausländische Filme. Hier gibt’s alte Filme. Hier gibt’s viele Filme, die vom Massenpublikum verpönt werden.» Für Sima ist gerade das ein Qualitätsmerkmal. «Es ist doch wie bei den Bestsellerlisten von Büchern. Was einer Million Menschen gefällt, ist meistens nicht gut.» Sogar hebräische Filme gebe es. «Für mich als deutsche Jüdin, die viele Sommer als Kind in Israel verbracht hat, ist das besonders schön.»
Inspirationsquelle für Kinos
Dieser grosse Fundus zieht Filminteressierte jeden Alters und jeden Geschlechts an. Den klassischen Videothekengänger gebe es nicht. So stolpert auch der 17-jährige Jossi, der seit Kurzem hier arbeitet und bald ein Mathematikstudium an der ETH beginnt, als Teenager zur blauen Tür hinein. «Meine Freunde und ich haben früher ab und zu Filme bei der ehemaligen Videothek ‘City-Video’ ausgeliehen. Irgendwann bekamen wir den Tipp, hier vorbeizuschauen. Das ‘Les Videos’ war uns gleich sympathisch. Also blieben wir.» Aber nicht nur Privatpersonen, sondern auch Zürcher Reprisenkinos wie das Filmpodium oder das Xenix stöbern gerne durch den Laden. «Sie nutzen die Videothek als Visionierungsfundus, um ihr Monatsprogramm zusammenzustellen», erzählt Fabio.
Ein kleines Eckchen gibt’s noch zum Durchstöbern. In dem von Holz dominierten Treppenhaus, das ins Obergeschoss führt, haben alle Mitarbeiter je einen Regalboden mit ihren Lieblingsfilmen arrangiert. Baiba ist ganz begeistert von der amerikanischen Doku «Life in the Thirties», die das Leben zur Zeit der Grossen Depression anhand von echtem Wochenschau-Material zeigt. «Sowas findest du nirgends.» Jossi dagegen empfiehlt «Nelly & Monsieur Arnaud», ganz im Gegensatz zu «A Rainy Day in New York», dem neuesten Woody-Allen-Film. «Den habe ich gerade erst geschaut und war total enttäuscht. Da bin ich viel Besseres von ihm gewohnt.»
Eine bedrohte Welt
Früher gehörte auch der obere Stock zur Videothek, aus Kostengründen wird es aber seit einer Weile an drei Grafikerinnen als Büro vermietet. Trotz dem erwähnten Kulturwandel der letzten Jahre könnten nur so die Miete und alle Löhne bezahlt werden. «Auch die Öffnungszeiten mussten wir anpassen. Jetzt haben wir nur noch bis 19 Uhr, nicht mehr bis 22 Uhr geöffnet», erklärt Fabio. Heute leihe um 21 Uhr niemand mehr einen Film aus. «Wenn du um die Zeit nicht weisst, was machen, dann setzt du dich an deinen Computer. Das Konsumverhalten hat sich schlichtweg verändert.» Die DVD sei ein bedrohtes Medium geworden. Kaum mehr jemand besitzt überhaupt einen Player. Dabei gibt es gar keinen wirklichen Ersatz. Die Netflix-Bibliothek zum Beispiel umfasst nur etwa 5000 Titel. Die Schweizer haben ein Schlupfloch gefunden. «Was machst du, wenn du den Film, den du sehen willst, dort nicht findest? Genau, du streamst ihn auf umstrittenen Portalen.» Auch deswegen haben alle anderen Videotheken in Zürich ihre Türen schliessen müssen.
Die blaue Tür des «Les Videos» aber ist noch offen.
Meinen Horizont erweitern: So einfach lässt sich mein Leben zusammenfassen. Ich liebe es, neue Menschen, Gedanken und Lebenswelten kennenzulernen,. Journalistische Abenteuer lauern überall; ob beim Reisen, Lesen, Kochen, Filme schauen oder Heimwerken.