
Hintergrund
Wann ist ein Foto echt?
von Samuel Buchmann
Stockfotos sind im besten Fall langweilig und im schlechtesten Fall so gekünstelt, dass es physisch weh tut. Woran liegt das? Wieso wird es nie besser? Und weshalb sind Stockfotos trotzdem so weit verbreitet? Ich versuche, das Wesen dieser merkwürdigen Fotografie-Gattung zu ergründen.
Schöne und glückliche Menschen sitzen an einem Tisch und halten ein Meeting ab. Jemand in einem hellblauen Hemd zeigt irgendwo hin, wo es nichts zu sehen gibt. Die anderen schauen sehr interessiert ins Leere. Die Personen wirken alle sehr sauber, fast schon steril, und bilden einen politisch korrekten Mix aus Mann und Frau, alt und jung, hell- und dunkelhäutig.
Was ich beschreibe, ist nicht ein bestimmtes Bild, sondern ein Typ von Bildern: Symbolfotos, die Büroarbeit illustrieren. Davon gibt es Unzählige. Und sie sind vor allem eines: austauschbar.
Diese Bilder wirken unnatürlich. Das liegt nicht einmal unbedingt daran, dass die Models schlechte Schauspieler wären. Der tiefere Grund ist, dass diese Fotos eine Welt zeigen, die es so gar nicht gibt. Lass mich kurz erklären, was ich damit meine.
Fotos sind ausdrucksstark, wenn sie etwas ganz Besonderes zeigen. Meist etwas sehr Konkretes. Wenn sie die Stimmung, die Emotionen eines einmaligen Augenblicks einfangen. Dieses Gefühl von «Nur gerade jetzt, nur gerade hier, dann nie wieder!» Je ausgeprägter das ist, desto stärker wirkt das Foto: Momente für die Ewigkeit. Das geschieht zum Beispiel bei grossen Sportereignissen. Niemals werde ich den Gesichtsausdruck des Fussballers Toto Scillaci an der WM 1990 vergessen. Scillaci war vor und nach der WM ein Fussballer unter vielen. Die Weltmeisterschaft im eigenen Land war sein grosser Moment. Er schoss sechs Tore, wurde Torschützenkönig und bester Spieler des Turniers. Beim Jubeln sah er immer aus wie ein kleiner Junge, der sein Glück nicht fassen kann.
Stockfotos sind genau das Gegenteil eines einzigartigen Moments. Sie sollen allgemeingültig sein. Deshalb zeigen sie möglichst wenig Konkretes. Stockfotos haben mit Piktogrammen (am Bahnhof oder Flughafen) oder mit sehr grossen Icons auf dem Computer mehr gemeinsam als mit einem gewöhnlichen Foto.
Stockfotos sind Symbolbilder. Sie sind leicht verdaulich, geben aber nichts her. Also wie Reiswaffeln. Typisch für Stockfotos ist, dass du sie sofort vergisst. Sie bleiben nicht in Erinnerung. Darum treffen wir immer wieder das exakt gleiche Bild an, ohne dass es uns auffällt.
Rein geschäftlich gesehen muss das so sein. Denn Stockfotos werden zu einem Zweck erstellt, der zum Zeitpunkt der Erstellung noch gar nicht klar ist. Mehr noch: Sie werden dafür geschaffen, für möglichst vieles gleichzeitig verwendbar zu sein. Darum sind sie so allgemein, so unbestimmt gehalten. Sie zeigen ein bisschen alles und nichts.
Stockfoto klingt nicht nur ähnlich wie Stockfisch, sondern ist es auch.
Stockfisch ist durch Trocknung haltbar gemachter Fisch. Vor der Trocknung werden die Köpfe und Eingeweide der Fische entfernt. Stockfisch war ursprünglich ein «Arme-Leute-Essen», da Kabeljau in ausreichenden Mengen gefangen wurde. Beim Stockfisch werden die Fische paarweise an den Schwanzflossen zusammengebunden und zum Trocknen auf Holzgestelle (norw. stokk) gehängt.
Stockfisch ist kostengünstiger Fisch auf Vorrat. Stockfotos sind kostengünstige Fotos auf Vorrat. Beiden Dingen wurde etwas Essenzielles entfernt.
Stockfotos sind meist irgendetwas zwischen gratis und recht günstig, sofort zu haben und du kannst unter einem grossen Angebot auswählen. Das teilweise komplizierte Feld der Lizenzrechte ist von Anfang an klar geregelt: Du weisst, wofür und unter welchen Bedingungen du das Bild verwenden darfst. Oft sind diese Bedingungen sehr locker: einmal kaufen, unlimitiert verwenden.
Trotzdem stellt sich die Frage: Wieso machen zum Beispiel Unternehmen Fotos von ihrer Arbeit nicht selber? Heute braucht es dafür kein wahnsinnig teures Equipment, und es findet sich in der Regel auch jemand mit fotografischem Flair, der oder die das preiswert übernehmen würde. Wir auf der digitec-Redaktion machen das in unseren Beiträgen so, und wir sind der Meinung, dass es ja ganz sympathisch ist, wenn die Fotos nicht perfekt sind und du auch mal die Unordnung auf unseren Schreibtischen siehst. Inklusive Coop-Tasche.
Aber nicht alle sind so offen. Viele Mitarbeiter wollen nicht abgelichtet werden, und das ist ihr gutes Recht. Sie wollen nicht, dass die Unordnung auf dem Schreibtisch zu sehen ist, ganz zu schweigen von Post-its mit Passwörtern oder peinlichen Desktop-Hintergründen. Authentische Fotos geben immer auch etwas Preis, das nicht beabsichtigt ist. Bei Stockfotos wird peinlich genau darauf geachtet, dass das nicht der Fall ist. Darum wirken sie so steril.
Die Mentalität, dass nichts Handfestes nach aussen dringen darf, ist in der Unternehmenskommunikation leider sehr verbreitet. Die Stockfotos widerspiegeln deshalb auch die verklemmte Kommunikation in unserer heutigen Bürowelt: «Vielen Dank für Ihre Rückmeldung. Gerne kommen wir zu einem späteren Zeitpunkt auf Ihr Anliegen zurück. Bitte antworten Sie nicht auf diese E-Mail.» Oder: «Gerne bestätigen wir Ihre 2. Mahnung vom 30. Mai», oder auch «sobald unser Head of Blablubber die Key Points approved hat, werden wir im nächsten agilen Sprint einen zertifizierten Report ausrollen». Möglichst nicht greifbar sein, möglichst nicht verantwortlich gemacht werden können – die Bürokratie hat einen Stock im Arsch, dass es kracht. Für viele «Kommunikationsexperten» sind Stockfotos daher genau das, was sie brauchen.
Auch der Journalismus hat einen grossen Bedarf an Stockbildern, denn nicht immer haben die Zeitungen Material vom konkreten Ereignis. Ein Bild braucht es trotzdem, weil das mehr Aufmerksamkeit erzeugt als Bleiwüsten und weil es einen schnellen Einstieg ins Thema ermöglicht. Unter dem allgemeinen Spardruck investieren die Medien aber nicht nur zuwenig in Fotografen und Reporter vor Ort, sondern auch zuwenig Zeit und Gehirnschmalz in eine sinnvolle Anwendung von Symbolbildern. Medienkritiker Stefan Niggemeier hat über eine längere Zeit besonders dämliche Beispiele dokumentiert. Viel Spass!
Aber könnte man Stockfotos nicht auch besser machen? Bilder kreieren, die nicht klischeehaft sind? Die etwas Abwechslung bieten? Natürlich versuchen das viele, die Stockfoto-Plattform EyeEm zum Beispiel hat diesbezüglich einen guten Ruf. Auch in den anderen Bilddatenbanken finden sich viele Fotos, die moderner, weniger abgegriffen aussehen.
Dabei werden aber in kurzer Zeit neue Klischees geschaffen. Ob Büroarbeit durch eine Sekretärin im Deux-Piece oder durch den immer gleichen 28-jährigen Hipster mit Vollbart symbolisiert wird, ändert nichts daran, dass es Klischees sind. Im hippen Start-up sind die Tische aus Holz, die Hemden bunt kariert und die Wände unverputzt. Klischees. Auch eine andere Farbgebung kann das nicht ändern. Heute dominiert warmes Licht mit Orangetönen, vor zehn oder zwanzig Jahren war in der Geschäftswelt noch bläulich im Trend. So oder so: Alles sieht gleich aus.
Warmes Gegenlicht: Check. Bart: Check. Kariertes buntes Hemd: Check. Holztisch: Check. Alle Klischees erfüllt, sauber!
Bart: Check. Kariertes buntes Hemd: Check. Lichtdurchflutet: Check. Unverputzte Wände: Check. Massiver unbehandelter Holztisch: Fail! Da geht noch was!
Das ist ja genau das Problem bei Hipstern: Sie versuchen unkonventionell zu sein, aber alle auf die gleiche Art, wodurch eine neue Konvention entsteht. Auch die politisch korrekten Mischungen aus Männern, Frauen, Jungen, Alten, Hellen und Dunklen hatten ursprünglich zum Ziel, Stereotypen zu durchbrechen. Geschäftsleute sollten nicht immer nur als weisse 50-jährige Männer dargestellt werden. Eine gute Absicht, aber es wirkt letztlich aufgesetzt, und die ständige Wiederholung macht es nicht besser.
Die Stockfotografie ist ein Geschäft mit der Masse. Das gilt einerseits für die Fotografen, die sehr viele Bilder hochladen müssen, um ein Einkommen zu generieren. Der Fotograf Marco Herndorff hat sich zum Beispiel 2000 Fotos pro Jahr als Ziel gesetzt. Der Output der Fotografen läuft bei den Online-Datenbanken zusammen, die gigantische Bestände verwalten müssen. Und das wird immer extremer.
Die Online-Plattformen funktionieren mittlerweile praktisch vollautomatisch. Es wird kaum noch von Hand aussortiert und verschlagwortet. Das wäre zu teuer und zu langsam. Dadurch findet aber auch kaum noch eine Qualitätskontrolle statt. Abgelehnt werden nur noch komplett identische Fotos (automatisch erkennbar), aber nicht Fotos, die sehr ähnlich wie andere sind und daher keinen Mehrwert bieten. Um in dieser Flut ähnliche Fotos nicht komplett unsichtbar zu werden, müssen die Fotografen immer noch mehr Bilder hochladen. Ein Teufelskreis.
Klar könnten die Fotografen auch originell sein. Ich gehe aber davon aus, dass sie ihre wirklich guten Bilder für andere Zwecke aufsparen, denn mit einem einzelnen Bild lässt sich auf der Stockfoto-Plattform nur sehr wenig verdienen. Schon gar nicht mit einem besonderen Bild, denn dieses hat einen eingeschränkten Verwendungszweck. Darum gilt: Wenn in der Stockfotografie jemand versucht, originell oder gar witzig zu sein, dann musst du dich aufs Schlimmste gefasst machen.
Diese zwei Beispiele von missglückter Originalität habe ich innerhalb von zwei Minuten gefunden. Es gibt tonnenweise davon.
Manche Stockfoto-Phänomene haben es zum bekannten Meme geschafft. Zum Beispiel der weisshaarige Mann mit dem seltsamen Gesichtsausdruck. Obwohl sein Lächeln sehr gequält aussieht, gibt es von ihm zahllose Fotos in allen möglichen Szenen. «Hide the pain Harold» hat den Hype um seine Person aufgegriffen und einen eigenen YouTube-Kanal eröffnet.
In der Stockfotografie werden reale Menschen zu Symbolen abstrahiert. Hier wird der Vorgang quasi wieder rückgängig gemacht und ein Kreis schliesst sich. Aus dem Symbol wird wieder ein realer Mensch. Aus dem Meme Harold wird das, was er eigentlich ist: András Arató aus Ungarn, pensionierter Ingenieur, der sich irgendwann damit abgefunden hat, im Internet zur Witzfigur geworden zu sein und nun versucht, das Beste daraus zu machen. Und plötzlich ist alles ganz anders als in der Welt der Stockfotos. Wir haben einen Einblick in das Leben eines Menschen, konkret, einzigartig. Und wir erinnern uns später daran.
Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere.