
Hintergrund
Hilfe, die 90er sind wieder geil: Teil 1 von «Lost Records: Bloom & Rage»
von Kevin Hofer
Nach dem wohlig warmen ersten Tape von «Lost Records: Bloom & Rage» wird es in Tape 2 düster. Der Abschluss von Dontnods neuestem Spiel ist gelungen, bietet aber noch weniger Gameplay als der erste Teil.
Soll ich die Bücher zuerst in die Schachtel packen und dann die Sprühdose darüber? Oder doch lieber zuerst die Malsachen? Und was mache ich dann mit dem Zauberwürfel? Diese Fragen stelle ich mir zu Beginn von «Rage», dem zweiten Teil von «Lost Records». Als Swann packe ich eine Zügelbox, denn schon bald zieht das Teeniemädchen mit ihren Eltern weg von Velvet Cove, einer verschlafenen Kleinstadt im Norden der USA.
Das Packen ist das Gameplay-Highlight von Tape 2. Denn die Fortsetzung der Geschichte von vier Freundinnen, die 1995 einen magischen Sommer zusammen erleben und sich 2022 zum ersten Mal seither wieder treffen, bietet noch weniger spielerische Interaktion als der erste Teil. Das ist aber nicht weiter schlimm, denn die Stärke von «Lost Records» liegt in der Erzählung – und die hat es in sich.
Meine Eindrücke zum ersten Teil, der bereits im Februar erschienen ist, kannst du in folgendem Artikel nachlesen.
Tape 2 setzt beim Cliffhanger von Tape 1 an. Ich erlebe, wie die Mädchen mit den Enthüllungen und Erlebnissen umgehen. Dabei sind ihre individuellen Reaktionen durchaus nachvollziehbar und passen zu ihren Persönlichkeiten, die sich in Tape 1 gezeigt haben. Eine Person zieht sich beispielsweise zunächst zurück. Sie bereut ihre Taten und möchte allein sein. Die andere hingegen sucht den Kontakt und will, dass alles wieder wie vorher ist.
War die Gefühlslage in «Bloom» wohlig, ist sie in «Rage» traurig. Das schlägt sich auch auf mein Gemüt nieder. Etwa machte mir das Füttern von Swanns Tamagotchi-Imitat «Buzzy» in Tape 1 noch pure Freude. Als ich in Tape 2 den Stall des digitalen Pixel-Lebewesens putze, fühlt es sich an, als ob ich das Geschehene wegwischen will. Gerne möchte ich die Teenager wieder unbeschwert erleben. Aber das ist wie im echten Leben nicht möglich und – so klischeehaft das jetzt klingen mag – gehört auch zum Erwachsenwerden dazu. Und davon handelt «Lost Records» auch.
Die Erzählung von Tape 2 ist äusserst dicht. Hatte ich in Tape 1 ab und zu noch etwas Zeit, die Umgebung zu erkunden, reiht sich im zweiten Teil Szene an Szene. Das heisst nicht, dass die Entwickler nicht auch Raum zum Verschnaufen eingebaut haben. Die gibt es jetzt aber mehr in Sequenzen, die mit Musik unterlegt ist. So läuft etwa Swann quer durch Velvet Cove zu ihrem Versteck im Wald. Die Szene ist mit Musik untermalt, wie ich es zum Beispiel von «Life Is Strange» kenne und untermalt die Emotionen von Swan perfekt.
Insgesamt gefällt mir die Story und ihre Erzählweise sehr gut. Sie berührt mich ähnlich, wie es das erste «Life is Strange» anno 2015 getan hat.
Die Inszenierung von «Lost Records» ist genial. Die Gebiete sind zwar klein, dafür vollgepackt mit Details. Im Erzählstrang in der Vergangenheit stosse ich auf Trollfiguren, Polly-Pocket-Sets, Akte-X-Plakate und ähnliche Dinge. Als Kind der 90er löst das in mir nostalgische Gefühle aus. Aber auch die Bar im Jahr 2022 mit den übrig gebliebenen Hinweisen aus der Pandemie – Gesichtsmasken und Desinfektionsmittel beim Eingang – machen die Szenerie glaubwürdig.
Hinzu kommt ein toller Soundtrack, der dank den rebellischen 90er-Teens auch etwas punkig und grungeig daherkommt – und nicht wie etwa bei «Life is Strange» gefühlt aus 100 Folk Songs besteht.
Die Dialoge sind durchwegs gut geschrieben. Da die Protagonistinnen Teenies sind, finde ich auch jene mit Fremdschämpotenzial nachvollziehbar und irgendwie herzig – welcher Jugendliche sagt nicht Dinge wie: «Dieser Abgrund ist so tief wie deine Seele»? Auch die englische Sprachausgabe gefällt mir – bis auf Corey. Er wirkt auf mich schlicht zu theatralisch. Was mich stört, ist, dass die Lippen teils nicht synchron mit dem Gesagten sind.
Das kann aber auch mit dem enormen Leistungshunger des Spiels zusammenhängen. Grafisch ist es zwar top, aber die Hardware muss stimmen. Selbst mein PC mit Ryzen 9 9800X3D und Radeon RX 7900 XTX röhrt in 1440p-Auflösung ordentlich. Auf dem Steam Deck erachte ich das Spiel gar als unspielbar, weil selbst auf den tiefsten Einstellungen meist keine 30 Bilder pro Sekunde möglich sind. Das finde ich bei einem Spiel wie «Lost Records» besonders schade, wo es vor allem um die Story geht. Die können so viele dadurch nicht erleben.
Beim Gameplay erfindet Dontnod das Rad nicht neu. Mit Swans Kamera, die ich jederzeit auspacken kann, filme ich nicht nur storyrelevante Dinge, sondern auch Tiere, Müll oder die schöne Landschaft. Das ist zwar witzig, aber abgesehen von den Dingen, die ich fürs Fortschreiten der Story filmen muss, optional.
Sonst beschränken sich meine Interaktionsmöglichkeiten auf das Untersuchen von Gegenständen und die verschiedene Dialogoptionen. Neue Antwortmöglichkeiten gewinne ich hinzu, indem ich mich etwa umschaue und dann spezifisch auf den Gegenstand Fragen stelle. Häufig muss ich innerhalb eines Zeitfensters eine Option auswählen, ich kann aber auch entscheiden, gar nichts zu sagen. Je nach Antwort oder Frage verändert sich die Beziehung zu meinen Freundinnen – in der Vergangenheit und der Gegenwart.
Was mir krass auffällt, ist das Verhältnis der Gameplay-Elemente von Tape 2 im Vergleich zu Tape 1. Die bereits beschränkten Möglichkeiten sind in Tape 2 nochmal drastisch reduziert. Ich muss kaum etwas untersuchen. Auch Rätsel fehlen, alles wird mir auf dem Silbertablett serviert.
Das zweite Tape von «Lost Records: Bloom & Rage» ist seit dem 15. April für Playstation 5, Xbox Series X/S und PC erhältlich. Das Spiel wurde mir von Dontnod für den PC zur Verfügung gestellt.
«Rage», das zweite und letzte Tape von «Lost Records», erzählt die Geschichte von Swann und ihren Jugendfreundinnen im Jahr 1995 und 2022 spannend zu Ende. Das liegt vor allem an den sympathischen Charakteren und gut geschriebenen Dialogen. Es ist das erste Spiel dieses Genres seit «Life is Strange», das mich mit seiner Geschichte derart mitreisst.
Weiter überzeugen mich der Artstyle und Soundtrack. Noch nie haben sich für mich die 90er so schön angefühlt. Ich schwelge beim Zocken immer auch in meinen eigenen Erinnerungen an meine Kindheit und Jugendzeit.
Weniger überzeugend ist das Gameplay. Dieses bietet Genre-typisch wenig neben laufen, sprechen, untersuchen oder dem gelegentlichen Rätsel. In Tape 2 tue ich das sogar noch weniger als in Tape 1.
Apropos Tapes: Die sind mein grösster Kritikpunkt an «Lost Records». Im Gegensatz zu «Life is Strange» erscheint das neue Spiel von Dontnod immerhin nur in zwei statt fünf Teilen. Persönlich hätte ich aber lieber beide Tapes auf einmal gespielt. So bin ich wirklich in der Story drin. Mit zwei Monaten Wartezeit dazwischen kann mein auf ständig neue Inputs getrimmtes Gehirn nicht umgehen. Aber jetzt sind glücklicherweise beide Teile da und ich kann sie allen Fans von Story-getriebenen Spielen empfehlen.
Pro
Contra
Technologie und Gesellschaft faszinieren mich. Die beiden zu kombinieren und aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, ist meine Leidenschaft.