Hintergrund

Steadicam: Die Revolution und ihre Erben

Die Kamera nahe am Menschen, keine Schienen, Seile oder Kräne. Das ist die Steadicam, eine Weste mit Stangenkonstruktion, die anno 1974 die Filmwelt auf den Kopf stellte. Ein Blick in die Geschichte des Kinos und ein Test der Weiterentwicklung der Steadicam.

Garrett Brown hat über Nacht das Kino revolutioniert. Gemeinsam mit seiner Frau hat er anno 1974 eine Erfindung gemacht, die die Filmemacherei komplett auf den Kopf gestellt hat und Kameraleuten komplett neue Möglichkeiten erschlossen hat. Er hat ein Demo Video aufgenommen, um Hollywood zu zeigen, was seine neue Technologie kann.

Fans des Kinos wissen, worum es geht. Den meisten Zuschauern aber gleicht das Video mit dem Titel «30 Impossible Shots», also 30 unmögliche Aufnahmen, dem Alltag aus Kino und Fernsehen. Das ist Garret Browns Schuld. Der Mann hat vor über 40 Jahren die Steadicam erfunden. Das Geschirr mit ausbalancierendem Kameraarm hat das Kino dynamisch gemacht und Kamerafahrten so vereinfacht, dass sie leicht und effortlos wirken.

Das Kino vor der Steadicam

Kamerafahrten sind nicht neu. Der erste Gewinner des Oscars für den besten Film – das 1927er Drama «Wings» – beeindruckte die Academy nicht nur mit seiner Story und seinem Schauspiel, sondern auch mit der folgenden Szene.

Um diesen Shot möglich zu machen, musste die Filmcrew einen Club auf einer Bühne nachbauen, denn die Kamera war gross, klobig und die von Regisseur William A. Wellmann geplante Kamerafahrt zu unmöglich. Daher auch die offensichtlich gezeichneten Fensterwände und Türen.

Damit der Shot gelang, hat die Filmcrew eine Art Seilbahn aus Schienen gebaut, die Kamera und einen Kameramann daran aufgehängt und durch die Szene fahren lassen.

Im 1930er Kriegsdrama «Im Westen nichts Neues» gibt es eine sechsminütige Sequenz, in der französische Soldaten versuchen, die deutschen Schützengraben zu stürmen und niedergemäht werden.

Bemerkenswert ist, dass die Kamera von Hand getragen worden sein muss. Besonders auffällig ist das bei Sekunde 21, wo der Kameramann über eine breite Lücke in der Grabenbarrikade gehen muss. Da fehlen einige Frames, damit es nicht auffällt, dass der sonst ruhige Schritt des Operators von der Unebenheit des Bodens unterbrochen wurde.

Der Frame Skip verlangsamt

Die Kameramänner der Zeit haben sich damit aber nicht zufriedengegeben. Sie haben gebastelt, getüftelt und so Illusionen erschaffen, die bis heute beeindruckend sind. Kamerawinkel, Doppelbelichtungen, Frames zusammenspleissen und Tricksereien mit Farbe sind nur einige der Techniken, die Produktionsteams im Laufe der Jahre angewendet haben um Zuschauern wie dir und mir ein möglichst immersives Filmerlebnis zu bescheren.

Dann kam Garrett Brown und seine Steadicam.

Die Revolution zum Umhängen

In «30 impossible shots» siehst du als Zuschauer nur wenig Spannendes, wenn es um Unterhaltung geht. Da rennt eine Frau durch die Gegend, ein Mann schwimmt. Aber es ist die Nähe am Menschen und die Beweglichkeit der Kamera, die das Video ausmacht. Bis vor Browns Erfindung war es nicht möglich, ohne Schienen oder Krankonstruktionen, solche Shots hinzukriegen.

In den frühen 1970ern war Brown Kameramann für Werbefilme und die Sesamstrasse, hatte aber die Schnauze voll davon, mühsam mit einem schienenbasierten Dolly oder einem Kran arbeiten zu müssen.

Eine moderne Steadicam mit einer Arri-Kamera darauf
Eine moderne Steadicam mit einer Arri-Kamera darauf
Quelle: John Fry, flickr.com

Seine Erfindung gleicht einer Weste oder einer Gurtkonstruktion mit einem Kranarm daran. An diesem Kran ist oben die Kamera befestigt. Unten hängen die Batterien und der Monitor als Gegengewicht. Der Monitor ist notwendig, da der Sucher der Kamera beim Einsatz der Steadicam unbrauchbar ist. So balanciert die Kamera sich mit einem Gimbal aus.

Da die ganze Konstruktion recht schwer ist, der Operator das Gewicht aber wie ein auf der Brust getragener Rucksack trägt, wackelt es wenig. Ein Operator kann also recht schnell und standsicher von A nach B gehen und trotzdem flüssige Aufnahmen produzieren. Bewusste Bewegungen sind einfach zu machen, da der Massenmittelpunkt dort liegt, wo der Operator seine Hand hat.

Kein Wunder ist Hollywood schnell darauf aufmerksam geworden. Unter den ersten Fans sind Regisseure Stanley Kubrick und John G. Avildsen.

Der erste Film, der mit Aufnahmen einer Steadicam ins Kino gekommen ist, ist der 1976er Spionage-Thriller «Marathon Man».

Doch ein Film hat mit einer Szene für Aufregung gesorgt. «Rocky», nur etwa zwei Monate nach «Marathon Man».

Da Rocky in der US-Stadt Philadelphia spielt, hat sich Regisseur John G. Avildsen direkt von Browns Originalvideo inspirerenl lassen können und die Szene mit der Treppe imitiert. Hinter der Kamera war beide Male Garrett Brown. Der Regisseur hatte sich gedacht, dass die Aufnahmen aus «30 Impossible Shots» dem entsprechen, was er in «Rocky» sehen will.

Und dann kam Stanley Kubrick. In seinem 1980er Horrorklassiker «The Shining» hat er einige Szenen mit der Steadicam – hinter der Kamera wieder Garrett Brown – gefilmt, unter anderem die unheimliche Szene, in der Danny (Danny Lloyd) auf seinem Dreirad durch das Overlook Hotel fährt.

Auch wenn dieser Shot technologisch mit einem Dolly möglich gewesen wäre, so hätte die Filmcrew die Schienen des Dollys aufwändig verstecken oder nachher aus dem Film entfernen müssen. Die Steadicam war einfach einfacher.

Garrett Brown hat nie aufgehört, an Kameras zu tüfteln, hat Kamera-Rigs für Sportevents erfunden und die Steadicam weiterentwickelt. Jüngst hat er den Pendel-Effekt des Gimbals auskorrigiert und so die Benutzung der Steadicam stark vereinfacht. Die Steadicam M1 Volt eliminiert die letzte Schwingung und balanciert sich selbst aus. Der Effekt: Der Operator muss sich weniger auf die Balance konzentrieren und kann sich voll auf die Navigation und das Bild konzentrieren.

Das Kino mit Steadicam

Selbst wenn die Technologie der Steadicam über 40 Jahre alt ist, so ist sie immer noch im Einsatz. Sie hat es sogar geschafft, eine ganz eigene Nische im Kamerawesen zu finden. Denn mit keinem Kamera-Rig sind lange Takes und One Shot Szenen einfacher zu meistern als mit der Steadicam.

Da ist zum einen die Kampfszene in «The Protector» mit Tony Jaa in der Hauptrolle, die vier Minuten lang Action liefert ohne auch nur einmal zu schneiden.

Okay, vielleicht ist da der eine oder andere Schnitt drin, wie Stuntman Rustic Bodomov erklärt, ist eine gut einsetzbare Schnitttechnik bei Steadicam Shots der sogenannte Whip Pan, in dem die Kamera sich sehr schnell um 180 Grad dreht.

Das sind aber längst nicht alle Einsätze der Steadicam. Garrett Brown hat laut Filmlexikon IMDB an 71 Filmen mit seiner Steadicam mitgearbeitet und er ist nicht der einzige, der mit Weste und Kranarm an Sets dieser Welt arbeitet.

Natürlich haben sich die Regisseure, Kameramänner und -frauen dieser Welt es sich nicht nehmen lassen, mit der Kamera zu spielen. So kommt unter anderem die Szene aus dem 1997 SciFi-film «Contact» zustande, in dem die ganze Szene – physisch unmöglich – in einem Spiegel stattfindet.

Gimbals: Die Erben der Steadicam

Mit der Steadicam ist die Entwicklung der bewegten Kamera aber noch lange nicht abgeschlossen. Bis heute tüfteln Ingenieure und andere – Garrett Brown selbst kam als Folk Singer zu etwas Ruhm – an noch kleineren Rigs, noch ausgefeilteren Technologien und spielen damit herum, um noch unmöglichere Shots hinzukriegen.

Der wohl berühmteste Erbe der Steadicam ist der Gimbal, nicht zu verwechseln mit der Technologie des Gimbals. Gimbals, die Objekte, sind Rigs, die einer Steadicam ähneln, aber keine Weste erfordern. Sie können in der Hand gehalten werden und auch sie sollen Shots stabilisieren. Vor allem mit den immer besser werdenden Kameras, die in Smartphones verbaut sind, aber auch dank Actionkameras wie der GoPro, sind Gimbals aktuell recht im Hoch.

  • Hintergrund

    Tobi fragt, wir antworten: Was ist eigentlich ein Gimbal?

    von Dominik Bärlocher

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So. Fertig. Ich hoffe, dass die Entwicklung von Kamera-Rigs weitergeht, denn die Arbeit mit Gimbal ist zwar etwas gewöhnungsbedürftig, aber die Resultate sprechen für sich. Und du, bleib neugierig und probier was aus.

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Journalist. Autor. Hacker. Ich bin Geschichtenerzähler und suche Grenzen, Geheimnisse und Tabus. Ich dokumentiere die Welt, schwarz auf weiss. Nicht, weil ich kann, sondern weil ich nicht anders kann.


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