

Retro für deine Finger

Azio bringt Steampunk auf dein Pult. Mit der Retro-Classic-Serie besetzt Azio eine Nische, die bisher Custom-Keyboards oder sündhaft teuren Spezial-Modellen vorenthalten war. Meine Bürogspänli und ich haben die Retros ausprobiert.
«Du kriegst immer so tolles Zeug zum Testen und mir bleibt nur der Müll», wirft mir Kollege Martin Jud an den Kopf, als ich die Retro-Classic-Elwood-Tastatur auspacke. Keine Sorge Martin, unser Category Management ist grosszügig und hat zwei Tastaturen mitgebracht. Einmal die Artisan-Version und ein einmal die Elwood-Version. «Du kannst gerne eine testen.» Martin reisst sich das Elwood-Modell unter den Nagel. Das gefällt mir optisch zwar auch besser, aber egal, Martin ist sowieso nicht für seine Ausdauer bekannt.
Gewöhnungsbedürftig
Zehn Minuten später ist Martins Euphorie bereits wieder seinem Gefluche gewichen. «Wieso müssen neuerdings alle kleine Enter-Tasten verbauen? Das nervt mich tierisch. Und sowieso ist diese doofe Tastatur viel zu hoch und es fehlt eine Handauflage.» Gehässig streckt er mir die Tastatur wieder entgegen. «Kannst deinen Scheiss wieder zurückhaben.» Aber, aber Martin, ich hoffe doch, dass du bei deinen Reviews geduldiger bist.
Ganz unrecht hat Martin allerdings nicht. Das Gehäuse ist vorne mit 2.6 Zentimetern relativ hoch. Zum Vergleich: Meine Razer Huntsman ist gerade mal 1.9 Zentimeter hoch. Kollegin Carolin Teufelberger macht ihrem Titel als Garten-Redaktorin bei Galaxus alle Ehre, und nimmt kurzerhand das Schweizer-Garten-Magazin als Handauflage zu Hilfe. Schöner wäre es, wenn Azio eine Handauflage mitliefern würde, schliesslich kostet die Tastatur knapp 250 Franken.

Zu Martins zweitem Kritikpunkt: Es ist tatsächlich nur eine 2.25 grosse Enter-Taste drauf. Mit 2.25 ist übrigens die kleinste Tastengrösse mal 2.25 in der Länge gemeint. Dass die so klein ist, goutiert auch Kollege Raphael Knecht nicht: «Die Enter-Taste ist aus der Hölle. Ich betätige immer die Dollar-Taste.»
Clicky-Switches
Dadurch, dass die Keycaps rund sind, bieten sie gefühlt etwas weniger Fläche zum Betätigen. «Ich gewöhne mich aber recht schnell daran», sagt Carolin. «Als nerviger empfinde ich, dass die Tasten im Vergleich zu meiner herkömmlichen Bürotastatur (Dome-Switch-Tastatur) streng zu drücken sind.»
Laut Herstellerangaben sind die Switches auch gar nicht so streng. Die Betätigungskraft bis zum Auslösepunkt beträgt 50 Gramm. Damit ist gleich viel Kraft nötig, wie beim Cherry MX Blue oder Brown. Nach dem Auslösen ist dann aber etwas mehr Kraft nötig. Azio spricht von 40 bis 85 Gramm Betätigungskraft auf dem gesamten Tastenhub, der 3.6 Millimeter beträgt. Die Switches lösen übrigens bei 1.6 Millimeter aus. Damit liegen sie unter dem Schnitt der Cherry MX mit 2 Millimetern.
Die Switches auf den Retro-Classic-Modellen empfinde auch ich als etwas gewöhnungsbedürftig. Azio hat sie in Zusammenarbeit mit Kaihua entwickelt. Das ist die Firma, die die Kaihl-Switches – eine quasi Kopie der Cherry MX – produziert. Die sind üblicherweise günstiger als das Original von Cherry. Das schlägt sich aber nicht im Preis der Retro-Classic-Modelle nieder. Das liegt wohl daran, dass es eine Spezialanfertigung ist.
Das Feeback der Switches ist sehr angenehm und ich mag den Klick. Es kommt etwas das Gefühl auf, auf einer Schreibmaschine zu schreiben. Das sagt auch Redaktions-Methusalem Patrick Bardelli. «Ich habe das Zehnfingersystem noch auf einer Schreibmaschine gelernt. Die Tastatur transportiert mich zurück in alte Zeiten. Da ich Retro bin, gefällt mir auch das Retro-Design.»
Design
Was sorgt für noch mehr Retro-Feeling als Clicky Switches? Wenn die Switches in einem Retro-Gewand kommen. Das hat sich auch Azio gedacht und dafür eine Indiegogo-Kampagne lanciert. Das Projekt wurde mit 1833 Prozent weit überfinanziert. Bei soviel Erfolg ist klar, dass das Produkt auch bei uns im Shop landet.
Gefallen tut die Tastatur auch Galaxus-Design-Cheerleader Pia Seidel. «Das Design des Elwood-Modells mit dem Holz und dunklen Metall gibt der Tastatur einen edlen Look. Es wirkt nicht so technologisch wie andere Keyboards. Je nach Einrichtungsstil passt es auch perfekt ins Büro.» Auch von den Keycaps ist Pia überzeugt. Sie empfindet sie als angenehm und schätzt den guten Halt. Ganz anderer Meinung ist Raphael: «Die Keycaps wirken so was von billig.»

Ich bin geteilter Meinung. Die Keycaps sind aus Kunststoff. Sie stehen im starken Kontrast zu den sonst hochwertigen Materialien. Wenn ich mir aber Keycaps aus Metall anschaue, und vor allem deren Preis, kann ich die Entscheidung von Azio, Kunststoff-Keycaps zu verbauen, nachvollziehen. Mit metallenen Keycaps würde die Tastatur wohl etwa gleich viel kosten wie das mechanische Keyboard für «Resident Evil 2».
Aber genug von den Tasten. Die Verarbeitung des Gehäuses ist Spitzenklasse. Überrascht bin ich von der Optik des Artisan-Modells. An diesem werden vor allem Steam-Punk-Fans ihre Freude haben. Leder-Hüllen sehen in meinen Augen schnell einmal billig aus. Das ist beim Artisan nicht der Fall. Das Leder fühlt sich hochwertig an und umschliesst das Gehäuse sehr schön. Der Rahmen aus Zinklegierung ist toll anzufassen und gibt dem Keyboard das gewisse Etwas. Ich könnte stundenlang den Duft der Tastatur inhalieren.

Die Elwood gefällt mir persönlich besser. Das Holz – ja, es handelt sich um echtes Walnussholz – wirkt hochwertig verarbeitet. Da Holz nie gleich ist, ist tatsächlich jede Tastatur ein Unikat. Wenn ich mit der Tastatur schreibe, kommt ein Hauch Wild-West-Feeling auf – das Keyboard wäre perfekt zum Spielen von «Red Dead Redemption 2», wenn es denn endlich für den PC rauskäme.
Artisan und Elwood sind nicht gerade Leichtgewichte. Über 2700 Gramm bringen die Dinger auf die Waage. «Ich empfinde das Gewicht als sehr angenehm. Die Tastatur verrutscht nicht so schnell», sagt Pia.
Wo isch d’Windows-Taste?
Die Retro-Classic-Tastaturen kannst du hardwareseitig zwischen PC und Mac umschalten. Dazu befindet sich auf der Hinterseite ein Schalter. Deshalb liegt der Packung euch eine Reihe Switches bei. Standardmässig ist nämlich das Mac-Tastaturlayout auf der Tastatur. Bist du Windows-User, musst du die Keycaps erst entsprechend tauschen. «So ein dummes Layout. Ich weiss zwar, wo die Windows-Taste ist, aber es verwirrt mich, dass sie nicht korrekt beschriftet ist», sagt Raphael.

Ebenfalls auf der Rückseite befindet sich ein Schalter zum Auswählen der Verbindung. Nebst USB bietet Azio nämlich noch Bluetooth als Verbindungsmöglichkeit. Voll geladen soll die Tastatur bis zu einem Jahr Akkulaufzeit bieten. Dazu musst du aber das Backlight ausstellen und die Tastatur nur ab und zu verwenden. Realistischer sind ein bis drei Monate. So schreibt es Azio auch im Manual.
Retro ist Trumpf
Ich finde die Retro-Classic-Tastaturen geil. Kaufen würde ich sie mir trotzdem nicht. Das liegt nicht an der Qualität, sondern daran, dass ich meine Tastatur bereits gefunden habe.
Verarbeitet sind die Keyboards erstklassig. Mit knapp 250 Franken kosten sie aber eine Stange Geld. Verglichen zu früheren Retro-Tastaturen ist das aber verhältnismässig günstig. Steampunk- und Wild-West-Fans kommen so zu einem angemessenen Preis zu Tastaturen, die ihrem Lebensstil gerecht werden.
Zu kritisieren gibt es die fehlende Handauflage. Auch sind die Switches sowie Keycaps inklusive Tastaturlayout gewöhnungsbedürftig. Hast du aber mehr Geduld als Kollege Martin, gewöhnst du dich relativ schnell daran. So kriegst du mit dem Retro-Classic-Keyboard ein tolles Gagdet, das ein Blickfang auf deinem Pult ist.


Technologie und Gesellschaft faszinieren mich. Die beiden zu kombinieren und aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, ist meine Leidenschaft.