
Huawei Mate 20 Lite: Die eine grosse Frage

Überraschend hat Huawei an der IFA das Mate 20 Lite angekündigt und in einer Guerilla-Marketing-Aktion in der Stadt gezeigt. Daher: Ein Hands-On vor dem Showcase an der Messe.
Die Journalisten an der IFA, darunter Videoproduzentin Stephanie Tresch und ich, glaubten zu wissen, was Huawei an der Pressekonferenz vorstellen wird. «Wird wohl gleich laufen wie vergangenes Jahr, ne», sagt mir ein Journalist in breitem Berliner Dialekt.
«Ja, ne», antworte ich.
So geht die Pressekonferenz auch. Kirin 980. Klingt gut, klingt stark, klingt next gen. P20 Pro kriegt ein paar neue Farben. Super. Passt. Phone des Jahres? Immer noch starker Kandidat.
Doch dann: Das Huawei Mate 20 Lite.

Quelle: Stephanie Tresch
Huawei spoilert sich selbst
In Fachkreisen munkeln Experten schon seit Wochen, wann Huawei denn die diesjährigen Mates vorstellen wird. Die Hauptfrage, die kurz vor der Messe in Berlin, durch die Insider-Zirkel geschwirrt ist: Wird es die IFA? Nein, wird es nicht. Oder nicht ganz.
Denn das Huawei Mate 20 Lite ist in Sachen Flaggschiff nicht einmal ansatzweise konkurrenzfähig. Will es auch nicht. Denn die Specs geben Preis, für wen das Phone gemacht ist.

Quelle: Dominik Bärlocher
Das Huawei Mate 20 Lite kommt mit 4GB RAM, 64GB internem Speicher und läuft auf einem Kirin 710 System-on-a-Chip (SoC). Das alleine klingt noch nicht beeindruckend. Soll es auch nicht. Denn mit der Lite-Serie will Huawei in der Regel die ansprechen, die sich kein Flaggschiff leisten können oder wollen. Also können wir schon mal sagen: Das Mate 20 Lite ist für Leute gemacht, die keine tiefen Taschen haben.
Der Blick auf das Kamerasystem zeigt dann die Zielgruppe vollends. Hinten hat das Mate 20 Lite eine Linse mit 20 Megapixel Auflösung verbaut, dazu eine zweite mit 2 Megapixel. Vorne aber ist eine einzelne Kamera mit einer Auflösung von 24 Megapixeln verbaut. Selfies, also. So dann: Selfies, kein Geld… Ist das Mate 20 Lite für Teenies gemacht worden? Klar, ich generalisiere hier wild in die Gegend hinein, aber in der Regel denken die Grossen der Industrie so. Wenn die Selfie Cam stark ist, dann ist die «Generation Selfie», also Teenies, die Zielgruppe.
Zoom pfui, Makro hui
Nun gut, testen wir die Kamera vor dem Berliner Europacenter.

Quelle: Stephanie Tresch
Den Himmel zerreisst es etwas, denn der ist in der Realität definitiv blauer. Der Vordergrund, also die ganzen Menschen, sehen auch ganz gut aus, doch die Tatsache, dass es sich hier nicht um Leica-Linsen handelt, zeigt sich im Hintergrund. Sobald ich über 100% reinzoome verlumpt der völlig.

Quelle: Stephanie Tresch
Das ist zwar wenig elegant, aber wenig erstaunlich. Andere Phones machen das genau gleich – darunter das neue Sony XZ3 – und für Social Media reichen die Bilder völlig aus. Die Kamera leistet vor allem dann Gutes, wenn sie per verbauter künstlicher Intelligenz Menschen vor sich erkennt. Dann sehen sogar abgekämpfte Journalisten eigenlich ordentlich aus.

Quelle: Stephanie Tresch
Auf der Vorderseite ist die 24-Megapixel-Kamera, die ganz ordentliche Selfies liefert, selbst wenn alle Beauty-Filter und andere AI-Verbesserungen deaktiviert sind. Selfie-Ministerin und -Kennerin Stephanie sieht dem Bild sofort an: Auch hier ist das Bild nichts, um reinzuzoomen. Social-media-kompatibel sind die Bilder allemal.

Quelle: Stephanie Tresch
Auf der Videoseite zieht die vollberufliche Videoproduzentin aber ein schlimmeres Fazit: Die Videos sind extrem körnig, vor allem wenn du bedenkst, dass das Video bei hellichtem Tag geschossen wird. «Dominik wird ausgegraut und der Hintergrund wird extrem übersättigt. Vor allem in den Haaren ist das erkennbar», sagt sie. Die Randnotiz von Dominik: Schau dir nie einzelne Frames aus einem Video an.

Quelle: Stephanie Tresch
Es wirke so, als ob die Kamera eine Art S-Log – also ein Farbprofil, mit dem die Kamera aufnimmt – über die Footage legt. Aber das S-Log ist nicht gut durchdacht und so sieht die Aufnahme «für Durchschnitts-User freigegeben» aus.
Von schlecht zu seltsam geht die Kamera, wenn ich die Blende voll aufdrehe. Sie geht bis auf f/0.95 runter, was auch schon das Leica-bestückte P20 Pro kann. Aber das Resultat aus dem Mate 20 Lite ist einfach nur seltsam.

Quelle: Dominik Bärlocher
Das Foto wird mit wirr verteilter künstlicher Unschärfe versehen. Die junge Frau im Vordergrund ist komplett unscharf, obwohl der Boden unter ihr gestochen scharf ist. Dafür ist der Mann hinter ihr bis auf sein Füdli scharf. Die Bäume sind mal scharf, mal nicht, die Zwischenräume zwischen den Blättern ebenfalls.


Doch die Kamera hat ihre guten Seiten. Wenn es um Makro-Aufnahmen geht, dann leistet sie ganze Arbeit. Das Mikrofon – unser treues Sennheiser MD46 – auf ihrem Schoss sieht genau so aus, wie es in der Realität aussieht. Schwarz, glänzend, leicht ramponiert.

Quelle: Stephanie Tresch
Eigentlich hätten wir gerne noch getestet, wie sich die Kamera im Dunkeln schlägt, aber so lange haben wir nicht. Es müssen Videos geschnitten und Texte geschrieben werden.
Die Frage nach dem «Warum?»
Zum Schluss bleibt aber die eine Frage: Warum sollte sich jemand das Phone kaufen. Klar, da gibt es Notfälle. Dein Handy ist kaputt und du brauchst jetzt sofort ein Neues? Greif zum Honor Play. Das leistet mehr für 50 Franken weniger.

Im Gegensatz dazu ist das Mate 20 Lite teuer und leistet viel Halbpatziges.
Nebst der Preisfrage ist da noch die Frage nach dem Zeitpunkt der Veröffentlichung. Warum wirft Huawei das Mate 20 Lite auf den Markt? Jetzt, etwa einen Monat bevor die grosse Schwester, das Mate 20 – eventuell mit «Pro» als Suffix – erscheint? Wer kauft ein Phone, das von sich selbst in gut vier Wochen selbst abgeschossen wird?


Journalist. Autor. Hacker. Ich bin Geschichtenerzähler und suche Grenzen, Geheimnisse und Tabus. Ich dokumentiere die Welt, schwarz auf weiss. Nicht, weil ich kann, sondern weil ich nicht anders kann.